2001 - 200 Jahre Betglocke
Bis heute verbinden Schlag und Geläut der Kirchenglocken ein Stück weit Kirchen- und Bürgergemeinde, und sei es auch nur, daß Stundenschlag und Läuten von der Mehrheit der Menschen (noch) als Teil des erhaltenswerten kulturellen Herkommens akzeptiert werden. In Zeiten, da nicht jeder am Handgelenk oder in der Tasche eine präzise Uhr zur Verfügung hatte, ja nicht einmal jedem Haushalt eine Uhr an der Wand zur Verfügung stand, umschlossen die Zeitgeber auf dem Kirchturm die ohnehin eng verbundene Bürger- und Christengemeinde in vieler Hinsicht. Das werktägliche Betläuten und der Stundenschlag, der Fest- und Trauerklang des Zusammenläutens wie auch das Sturmläuten in Feuer- oder Kriegsnot hatten eine mehrfach verschlungene religiöse und zivile Funktion. Schillers "Lied von der Glocke", fast gleichen Alters wie die Dietlinger Betglocke, gibt dieser Tatsache einen zwar zuweilen kritisierten, dennoch literarisch bedeutsamen Ausdruck. So ist leicht zu verstehen, daß der Ausfall einer oder mehrerer Glocken in älterer Zeit weit mehr war als ein allenfalls achselzuckend hingenommener Schönheitsfehler (oder gar erschien als eine erwünschte akustische Verschonung), er bedeutete mindestens eine empfindliche Störung der zeitlichen Ordnung des öffentlichen und privaten Lebens.
Eine solche erfuhr die markgräflich badische Gemeinde Dietlingen am 23. August 1800, als die größere ihrer beiden Glocken zersprang. Der damalige Ortspfarrer, Christoph Friedrich RINK, begriff den Unfall als eine Möglichkeit, das ohnehin seit Jahren unvollständige Geläut der Andreaskirche wieder zu vervollständigen. Er veranlaßte Schultheiß Eberle, eine Bürgerversammlung ins Rathaus einzuberufen; dort wurde beschlossen, "bey dieser Gelegenheit das ganze Geläut besser und zweckmäßiger einzurichten, und demnach zu dieser umzugießenden (Glocke) eine noch größere harmonische anzuschaffen". Es war unbestritten, daß die Kosten für diese Maßnahme nach geltendem Recht zu Lasten der markgräflichen Herrschaft gingen; aber offensichtlich lag den Gemeindevorstehern wie den Bürgern allen daran, daß die Ergänzung des Glockensatzes so bald wie möglich geschah. In der sicher richtigen Annahme, daß eine spontane Selbstbeteiligung der Erfüllung dieses Wunsches sehr förderlich sein würde, wurde noch bei selbiger Bürgerversammlung beschlossen, daß jeder angesessene Bürger, ohne Rücksicht auf seinen Vermögensstand, zwei Gulden (fl) beisteuern, ferner die Gemeinde aus öffentlichen Mitteln mindestens 100 fl aufbringen solle. Die pfarramtliche Niederschrift hält außerdem fest, daß sich noch viele Bürger erboten, "ganz freiwillig etwas extra beyzutragen". Diese freiwillige Spendenzusage wurde auch gleich in einem Protokoll erfaßt. Pfarrer Rink, 1757 im nahen Weiler als Pfarrerssohn geboren und nun seit 10 Jahren in Dietlingen amtierend, erwies sich hier und in den folgenden Verhandlungen nach Ausweis des Schriftverkehrs als umsichtiger Vertreter der Interessen seiner Gemeinde; gleichwohl dauerte es Monate bis nach einem aufreibenden bürokratischen Hindernislauf zunächst der Umguß der zersprungenen Glocke in Angriff genommen wurde. Für die Herstellung beider Glocken wurde Christian Gottlieb Neubert vorgesehen, "der unlängst eine zersprungene Kirchenglocke zu Niefern umgegossen und gute Arbeit geliefert hat". (Rentkammerprotokoll)
Neubert betrieb im württembergischen Ludwigsburg in dritter Generation eine Glocken-, Geschütz- und Eisengießerei; seine Firma konnte als die angesehenste Gießerei im benachbarten Herzogtum gelten. Wenn er im badischen Niefern zum Zug gekommen war, ist dies wohl darauf zurückzuführen, daß der Transport nach und von Ludwigsburg weniger problematisch war als zwischen jedem andern in Frage kommenden Ort und Niefern. Ähnliches wenigstens durfte für Dietlingen gelten. Vor jeder konkreten Maßnahme war natürlich die Gesamtfinanzierung im Grundsatz zu klären. Markgraf Karl Friedrich, auch bei Beträgen dieser Größenordnung noch persönlich an der Beschlußfassung beteiligt, mußte erst sein Plazet geben. Er gewährte es am 1. November 1800 unter der ausdrücklich eingeschärften Bedingung, daß - bei dem etwa zu 1.320 fl gerechneten Aufwand insgesamt - der von der Gemeinde angebotenen Beitrag von 600 fl "unfehlbar" vor der Übergabe der Glocken abgeliefert sein müsse. Damit war aber der Weg für den Guß noch nicht frei, untergeordnete Behörden legten sich quer; erst am 27. November 1800 wurde das Gewicht der endlich abgenommenen gesprungenen Glocke von der Stadtwaage Pforzheim mit 540 (badischen) Pfund (ca. 253 kg) festgestellt und am 28. November konnte Neubert die Anlieferung dieser Glocke bestätigen.
Weitere Verzögerungen ergaben sich durch das Auftreten eines Unterbieters: Ignaz Reinburg, "Emigrant" aus dem französischen Unterelsaß, in der Gegend von Rastatt arbeitend, aber noch nicht endgültig niedergelassen, versuchte durch sehr günstige Konditionen ins Geschäft zu kommen. Nun freilich wehrte sich Pfarrer Rink, der offenbar zu Neubert ziemliches Zutrauen gefaßt hatte, für Ludwigsburg als Gußort trotz des höheren Preises: "Bey einer Arbeit von solcher Wichtigkeit, und auf ewige Zeiten(!) kommt es auf eine kleine Ersparnis nicht an, sondern auf Güte der Arbeit." Mitte Dezember 1800 ließen sich die Behörden in Karlsruhe von Neuberts Argumenten für seinen Preis schließlich überzeugen, und Anfang 1801 konnten in Ludwigsburg die technischen Vorbereitungen für den Glockenguß endlich beginnen. Hatten im Dezember 1800 "die eingefallene Kälte" und eine Reise des Glockengießers Neubert, von der er krank zurückgekehrt war, jene Vorbereitungen gehemmt, so erlaubte offenbar nun milderes Wetter zügigere Arbeit beim Aufbau der Gußformen. Als am 12. Januar 1801 zwei Vertreter der Gemeinde den erbetenen Vorschuß auf die zu gießenden Glocken in Höhe von 400 fl (also ein knappes Drittel der Gesamtkosten) in Ludwigsburg ablieferten, konnten sie sich von erheblichen Vorarbeiten bereits überzeugen.
Zu den erforderlichen "technischen" Maßnahmen gehörte übrigens auch in der Dietlinger Glockenstube ein genaues Ausmessen des Faches, in dem die neuen Glocken hängen sollten. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Zeitumstände, daß sich Neubert die Bindfadenstücke erbat, mit denen die Abmessungen ermittelt werden sollten, damit ja nicht gleichnamige, aber unterschiedlich große Maßeinheiten (verschiedener Länder oder gar Orte) ihn zu falschen Schlüssen führten!
Immerhin hatte man den Abgesandten Dietlingens in Ludwigsburg keine
potemkinschen Dörfer vorgeführt. Am 6. Februar konnte der
Glockengießer an Pfarrer Rink schreiben, daß für Donnerstag, den 12.
Februar lfd. Jahres die kleine Glocke (also der Ersatz für die
gesprungene) zum Guß vorgesehen sei. Überaus herzlich lud er den
Pfarrer und seine Familie ein, dem Guß beizuwohnen und den bisher nur
schriftlichen Kontakt durch eine persönliche Begegnung zu vertiefen.
"Bereits sind Zimmer und Betten parat, so gut als ichs habe, auch
Hausmannskost werden Sie antreffen, daß man bestehen kann, wie es eben
bei Leuten von meinem Stande sich thun läßt." Er habe den Glockenguß
absichtlich auf die Wochenmitte angesetzt, damit Rink durch einen
Besuch nicht von seinen (sonntäglichen) Amtsgeschäften abgehalten
werde.
Die Glocke wurde offenbar auch pünktlich gegossen und schon
Ende Februar an Ort und Stelle gebracht. Unterwegs konnte auf der
Pforzheimer Stadtwaage ihr Gewicht mit 657 Pfd. (ca. 307 kg) amtlich
ermittelt werden. (Nach Neuberts Angebot war dieses Endgewicht für die
Abrechnung mit dem markgräflichen Bauamt maßgebend.) Es ist davon
auszugehen, daß man sie in Dietlingen alsbald hochzog und die Gemeinde
so während des größeren Teils der Passionszeit und dann an Ostern 1801
wenigstens wieder ein zweistimmiges Geläut hatte.
Offensichtlich war jedoch Pfarrer Rink zum Guß jener Glocke trotz
des verlockenden Angebots nicht in Ludwigsburg gewesen. Denn er wurde
zu dem jetzt mit Macht betriebenen Guß der größeren, also der jetzigen
Dietlinger Betglocke, desto dringender eingeladen. "Ich verlasse mich
nun auf das schon längst gegebene Wort, und freue mich mit den
Meinigen unendlich nun auch persönlich denjenigen Freund kennen zu
lernen, welcher sich als unbekannt meinetwegen so viel Mühe gegeben
und Freundschaft erwiesen hat," schrieb Neubert am 8. April.
Als
Termin für den neuerlichen Glockenguß wurde der 14. April 1801
vorgesehen. Ob dieses Datum genau eingehalten werden konnte und ob
Rink samt Familie und eingeladenen Vertretern der Gemeinde teilnahm,
läßt sich vorerst nicht sicher feststellen, ist jedoch wahrscheinlich.
Auf jeden Fall war die Glocke samt Zubehör am 15. Mai "schon einige
Zeit fertig"; doch bat Gießer Neubert, schwer erkrankt und mühsam im
Bett einige Zeilen kritzelnd, das "sehr schön ausgefallene" Stück von
Dietlingen aus abholen zu lassen. Er vertraue darauf, daß der
Dietlinger Fuhrmann bei der Berechnung ihn " nicht übernehmen werde".
Es ist nicht überliefert, wie der Transport im einzelnen vor sich
ging. Doch offensichtlich erholte Neubert sich so weit, daß er die
Aufhängung der Glocke kurz vor Pfingsten überwachen oder doch
überprüfen konnte, denn er quittierte am 23. Mai in Dietlingen eine
weitere Teilsumme; das Geld verwendete er dann, um den Dietlinger
Fuhrmann Gottlieb Bischoff zu bezahlen. Der Transport ging nach dem
"Accord" zu Lasten des Glockengießers. Da jener 23. Mai Pfingstsamstag
war, dürfte erstmals nach langen Jahren akustischer Dürftigkeit das
pfingstliche Festgeläut im Jahr 1801 wieder dreistimmig gewesen sein.
Sind C. G. Neuberts Glocken in der Regel eher sparsam geschmückt
und beschriftet, hatte sich die Gemeinde Dietlingen die ihre als
sprechendes Denkmal der Zeitstunde gewünscht. Nicht nur wurden wie
üblich der Name des Gießers samt Ort und Jahr des Gusses mitgeteilt
sowie im Lorbeerkranz Name und Rang des regierenden Fürsten verewigt,
sondern auch die Namen von Pfarrer, Schultheiß, Anwalt und
Schulmeister(!) wurden unter der Gemeindebezeichnung "Dietlingen.
Oberamts Pforzheim" festgehalten. Die Zahlungsmodalitäten zogen sich
noch eine Weile hin. Für Anfang Juni liegt eine Aktennotiz vor, daß zu
der auf die Herrschaft entfallenden Summe ein Kostenprotokoll beim
markgräflichen Bauamt zwecks Überprüfung eingereicht wurde. Was den
Anteil der Gemeinde Dietlingen betraf - eine strenge Trennung zwischen
bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde gab es ja noch nicht - ,
erstellte Pfarrer Rink im Januar 1802 eine Übersicht. Von namentlich
genannten Gemeindegliedern standen noch etwa 54 fl aus, kein Wunder
vor dem Hintergrund der vieldokumentierten Armut jener Zeit. Doch
hatte die "Gemeins-Kasse" alle Ausstände vorgeschossen, so daß
Glockengießer Neubert schon am 10. Januar die letzte Rate von 166 fl
entgegennehmen und dazu feststellen konnte: "So wäre also nun die
Summe von Sechshundert Gulden, die die Gemeine Dietlingen zahlen
sollte, ganz entrichtet."
Die Beziehungen der Ludwigsburger
Glockengießerei zu Dietlingen waren damit aber nicht abgeschlossen.
Nicht nur sollte sich Neubert um die marode Feuerspritze kümmern,
sondern als 1805 die letzte der alten Glocken sprang, wurde er wieder
mit dem Umguß beauftragt. Dieses Mal dauerte es zwei Jahre, bis die
Glocke ersetzt war. (Wohl auch ein Zeichen der finanziell prekär
gewordenen Lage des nunmehrigen Großherzogtums Baden.) Damit läuteten
von 1807 bis zum Ersten Weltkrieg in Dietlingen drei Glocken aus dem
Neubertschen Werk.
Von ihnen überdauerte den Metallfraß der beiden
letzten Kriege die größere Glocke von 1801. Täglich ruft sie zum Gebet
und erinnert gleichzeitig an die mühsam erwirtschafteten Kreuzer und
Gulden, welche in einer keineswegs "guten alten Zeit" die Voreltern
der heutigen Dietlinger aufbrachten für diese große mahnende und
tröstende Stimme vom Turm der Andreaskirche.
Ungefehre Konstens-Berechnung über Eine ganz neue 1200 Pfd. schwere Kirchen-Gloke
1. Eine ganz neue Gloke von dem besten Metall, welche ungefehr 1200. Pfd. wägen solle, wird dem Pfd. nach zu 52 kr. bezahlt samt Arbeitslohn und mit Innbegriff des Feuers-Abgangs, thut: 1040 fl.
2. Zwei metallene Lager, worinn die Gloke, wegen ganz neuer Einrichtung zum Läuten, läuft, können ungefehr 20 Pfd. wägen, das Pfd. zu 52. kr. weil es die nemliche Composition ist, thut: 17. fl 20 kr
3. Das ganze Beschläg kann ungefehr wägen 60. Pfd. das Pfd. zu 20. kr. thut: 20. fl
4. Ein ganz neuer Schwengel ungefehr 48. Pfd das Pfd. zu 20. kr thut: 16. fl
5. Ein ganz neues Joch von gutem dürrem aichenem Holz, samt dem dazu gehörigen Läut-Arm samt Aufpassen: 7. fl
6. Ein neuer Riemen samt Schnalle und eisernem Stift, woran der Schwengel gehängt wird: 3. fl
7. Trink-Geld vor die Gesellen, samt Weg-Geld und andern kleinen Neben-Unkosten samt der Aufschrift, welche auf die Glocke gesezt wird, kann nicht bestimmt werden, und wird der billigen Einsicht der Commun freigestellt.
8. Die neue Gloke samt Zugehörde wird auf meine Kosten an Ort und Stelle geliefert.
9. Wird nur gute und dauerhafte Arbeit nebst reinem Ton der Gloke und ächt feinem Metall bei derlei größeren Gloken drei Jahre lang garantiert, und jeder Schaden auf eigene Kosten ersezt, wenn nicht mit Gewalt oder Unvorsichtigkeit etwas ruiniert wird.
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Alles aufs urkundliche Nachgewicht ausgesetzt. Summa: 1103. fl 20 kr
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Ludwigsburg, den6ten Oct. 1800 / T. C. G. Neubert
Walter Kling
2011 - Projekt - Geöffnete Kirche
Es ist nicht mehr zu übersehen: Kirchenräume erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Sie locken europaweit immer mehr Gäste an. Menschen kommen unter der Woche mal eben "auf einen Sprung" vorbei: vor dem Einkauf, nach der Arbeit, in der Mittagspause. Sie setzen sich zehn Minuten in die Reihen, zünden eine Kerze an, schreiben ein Gebet oder eine Bitte in ein Fürbittbuch. Am Ausgang nehmen sie sich eine Karte mit einem Bibelvers oder stecken den schriftlichen Kirchenführer in ihre Tasche. Sie kommen, weil unsere Städte laut und hektisch sind und die Kirchenräume mit ihrer klaren Struktur und ihrer Ruhe zunehmend als einzigartig empfunden werden. Sie kommen, weil ein Problem sie quält und sie hoffen, in der Kirche gelassener zu werden und Trost zu finden. Sie kommen mit Kindern an der Hand und erinnern sich mit ihnen an die Taufe, die gezeigten Geschichten oder Lieder und Gebete.
Sie sind jung und alt, Frauen und Männer, kommen aus unterschiedlichen Ländern, und es sind nicht nur Christinnen und Christen. Sie kommen nicht unbedingt am Sonntagmorgen um 9.30 Uhr, und sie suchen nicht unbedingt einen Gottesdienst. Trotzdem stehen hinter diesem neu erwachten Interesse an den Kirchenräumen ernst zu nehmende religiöse Fragen, Anliegen und Sehnsüchte. Gemeinden beschließen daher immer häufiger, den Menschen unter der Woche auch ihre Kirchtüren zu öffnen.
Die Dietlinger Andreaskirche ist schon seit vielen Jahrzehnten täglich von 8 Uhr bis 18 Uhr für alle geöffnet. Seit dem 27. Oktober 2011 sind wir in die Datenbank www.kirche-geoeffnet.de aufgenommen worden und dürfen das Signet für geöffnete Kirchen tragen. Es ist inzwischen offiziell an der Andreaskirche angebracht.