01.02.2012 - Palästina - ein Erfahrungsbericht

Es ist Dienstagnachmittag gegen 13 Uhr. Die Sonne brennt an diesem frühen Sommertag Ende Mai schon unbarmherzig vom Himmel und weit und breit ist keine noch so kleine Wolke zu sehen, die wenigstens ein bisschen lindernden Schatten spenden könnte. Ein kleines Lüftchen weht immerhin hier oben auf dem Berg, am Rande von Beit Jala im Westjordanland, unweit des biblischen Bethlehem. Doch wirklich erfrischen tut es nicht. Meine langen Jeans und das langärmelige Oberteil kleben mir auf der Haut und der Schal, den ich mir locker aber großzügig um den Hals geschlungen habe, um mich vor allzu neugierigen Blicken zu schützen, macht die Hitze auch nicht gerade besser.

 

... Blick über Beit Jala

 

Ich stehe vor dem Schultor von Talitha Kumi, der lutherischen deutschen Auslandsschule, die seit fast einem Jahr meine Heimat ist. Eigentlich warte ich seit einer Viertel Stunde auf das Taxi, das ich bestellt hatte, um zur Dar al-Kalima Schule, einer zweiten lutherischen Schule, nach Bethlehem zu fahren. Doch wie das hier in Palästina so üblich ist, lässt sich Khaled, der Taxifahrer, viel Zeit. Ich habe mich ja mittlerweile an die typisch palästinensische Unpünktlichkeit gewöhnt und so mache ich mir erst mal keine Sorgen. Stattdessen lasse ich den Blick über die Landschaft schweifen, die sich vor mir in sanften Hügeln ausbreitet. Braun ist die Farbe, die vorherrscht. Seit Wochen hat es schon nicht mehr geregnet und das wenige Grün, das sich auch ohne viel Wasser halten kann, ist vom aufgewirbelten Sand und Staub so dreckig, dass es sich kaum von der Erde unterscheidet. Vor mir im Tal erstrecken sich die Orte Beit Jala und Bethlehem, weiter hinten im Dunst kann ich die Hochhäuser Jerusalems erahnen. An klaren Tagen sieht man von hier aus über das Jordantal hinweg die jordanischen Berge am Horizont und, wenn es dunkel ist, sogar die Lichter Ammans. Ich liebe diese Aussicht!

 

... an der Mauer in Bethlehem

 

Die Häuser sind genau so eintönig braun wie der Rest der Landschaft. Fast alle scheinen nur halb fertig gebaut zu sein, denn man sieht oben am Rand des Flachdachs die Eisengitter herausragen, die weiter verwendet werden, wenn der Sohn der Familie heiratet und für sich und seine Frau noch ein weiteres Stockwerk oben drauf baut. Auf den Dächern stehen Wassertanks und man sieht einige FC Barcelona Flaggen vom letzten Champions League-Spiel an den Wänden hängen. Fast alle hier sind Barcelona-Fans. Etwas weiter hinten sieht man bruchstückhaft eine große hässliche Betonmauer. Es ist DIE Mauer. Die Mauer, die von manchen Leuten Sicherheitszaun und von anderen Apartheitswall genannt wird. Die Mauer, die von Israel gebaut wird, angeblich, um sich vor den bösen palästinensischen Terroristen zu schützen, in Wirklichkeit aber, um seine Macht auszuspielen und das palästinensische Volk zu schikanieren. Die Mauer, an der die Freiheit für die meisten Palästinenser endet und deren Durchquerung nur mit einer schwer erhältlichen Erlaubnis und nach willkürlichen unmenschlichen Kontrollen möglich ist. Wie frustrierend muss das Leben sein, wenn es spätestens nach einigen wenigen Kilometern an diesem Betonmonster endet?, frage ich mich und mir wird gleichzeitig bewusst, wie viel privilegierter ich als Ausländerin mich hier bewegen kann als die Einheimischen, die schon seit Generationen hier wohnen. Und dann: Wie unfassbar lebensfroh die Palästinenser doch sind, von denen man angesichts ihrer politischen Lage eher erwarten würde, dass sie Trübsal blasend im Wohnzimmer hocken. Doch nein, immer und überall wird gefeiert. Die Hochzeiten, die Geburtstage, die Schulabschlüsse und auch einfach so … je mehr Gäste, desto besser! Sehr fröhlich sind die Feste. Und ausgelassen wird getanzt. Und Essen gibt es so viel, dass man platzen könnte. Und laut geht es zu.

 

... eine meiner Schülerinnen und ich

 

Apropos laut … von einer schrillen Autohupe direkt an meinem Ohr werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Khaled hat es mit seinem alten klapprigen Skoda doch noch den Berg herauf geschafft und winkt mir fröhlich mampfend zu. Yalla, Miss Katrina, yalla … Auf geht´s, Katharina, beeil´ dich! Schnell verstaue ich meine Posaune im Kofferraum und los geht´s, in rasanter Geschwindigkeit den Berg hinunter nach Bethlehem, wo mich in ein paar Minuten meine Schüler erwarten sollen, begierig darauf, heute endlich den nächsten Ton auf ihren Trompeten und Posaunen zu lernen. Dafür bin ich schließlich extra für dieses Jahr nach Palästina gegangen, um Kindern das Musikmachen auf Blechblasinstrumenten beizubringen. Unterwegs werde ich von Khaled über die neuesten Wichtigkeiten informiert. Klatsch und Tratsch aus Bethlehem. Und zwar in mindestens derselben Geschwindigkeit, mit der er das Auto erstaunlich sicher durch die engsten Gassen und dann wiederum durch das schlimmste Gewühl auf der Hauptstraße lenkt. Nur mit Mühe kann ich ihm folgen, wenn er in einem Gemisch aus Englisch und Arabisch von seinen Nachbarn erzählt, die sich mal wieder völlig daneben benommen haben, bevor er zu den schulischen Leistungen seiner sieben Kinder und den vorzüglichen kulinarischen Fähigkeiten seiner Frau kommt. Nur leider, so fügt er an, kann sie keinen guten Kuchen backen. Das können die Deutschen viel besser. Na gut, wenn er meint, denke ich und verspreche ihm, ihm ganz sicher ein Stück Kuchen mitzubringen, wenn das nächste Mal in unserer deutschen Volontärsküche gebacken wird.

 

... meine Schülerinnen Ayah, Dalia, Alaa und Lubna

 

Wie durch ein Wunder erreichen wir die Schule doch noch kurz vor dem Pausengong. Ich gehe durch die noch verlassenen Gänge zu meinem Unterrichtsraum und bereite mich innerlich auf sieben völlig überdrehte Sechstklässler vor. Was mir die nächsten anderthalb Stunden wohl heute bringen werden? Doch viel Zeit, über diese Frage nachzudenken, habe ich nicht. Der Schulgong beendet für die meisten Schüler den Schultag und prompt stürzen sie aus den Klassenzimmern heraus dem Nachmittag entgegen. Auch ich bin schnell von einer Horde Kindern umgeben, die gar nicht alle "zu mir gehören" und ich frage mich, was mich für sie so faszinierend macht. Wahrscheinlich ist es schlicht und einfach meine helle Haarfarbe, die mich in ihren Augen zu etwas Besonderem macht. Ich versuche, die aufgeregte Meute möglichst bestimmt und freundlich zugleich auf den Nachhauseweg zu schicken und mich um "meine eigenen" Kinder zu kümmern. Adel hat sein Instrument vergessen. Mohammad seine Noten. Mourad wurde bei einer Rauferei verletzt und kann nicht spielen. Wie praktisch, sage ich, dann kriegt heute ausnahmsweise Adel deine Posaune, damit wenigstens er mitmachen kann. Ja, man lernt zu improvisieren in diesem Land, in dem man das Wort Zuverlässigkeit nicht zu kennen scheint. Aber diese Mentalität hat zwei Seiten: sicher, sie macht alles chaotischer als es aus deutscher Sicht sein müsste. Aber sie macht auch vieles einfacher, natürlicher, ja, entspannter. Keinen Tag habe ich in Deutschland bisher so relaxed gelebt wie ich es in Palästina getan habe. Nie warte ich hier so geduldig auf den Bus wie dort, wo es einfach keine Fahrpläne gibt und man sich halt mal an die Straße stellt und wartet, bis einer vorbei kommt …

Puuh, die Unterrichtsstunde ist für heute beendet! Wie immer habe ich das Gefühl, nicht besonders viel geschafft zu haben. Doch auch daran gewöhnt man sich mit der Zeit und ich bin immer wieder erstaunt, wenn beim nächsten Mal doch eine Kleinigkeit wenigstens hängen geblieben ist. Schnell gebe ich noch die Hausaufgaben bekannt, bevor die Jungs wie wild zur Tür hinaus stürmen. Nur Taleen, das einzige Mädchen der Gruppe, lässt sich Zeit, ihre Trompete einzupacken. Die stille, besonnene, intelligente Taleen, die in der Gruppe mit sechs Jungs fast ein wenig untergeht, die aber als Ruhepol so unendlich wichtig ist. Sie spielt nach nur einem halben Jahr wirklich schön Trompete und hätte die Veranlagung, eine richtig gute Musikerin zu werden. Wenn es für sie nur den leisesten Hauch einer Chance gäbe, ihre Neigung zu vertiefen. Doch das ist so gut wie unmöglich. Wenn sie den vielen, vielen anderen Mädchen nachgeht, wird sie mit 18 verheiratet sein und ein Leben als Hausfrau und Mutter führen. Ana bahebek, Miss Katrina! - Ich hab dich so gern, Katharina!, sagt sie und umarmt mich zum Abschied. Welch eine treue Seele! Und welch unschöne Aussichten die allermeisten von meinen Schülern in diesem Land haben! Es gibt Stunden, da könnte ich heulen wie ein Schlosshund. Über die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Über vergeudetes Potential. Über das Schicksal dieser kleinen Menschen. Und über meine Ohnmacht, ihnen nicht wirklich helfen zu können.

Mit diesen trüben Gedanken im Kopf mache ich mich auf den Heimweg. Die Aussicht auf ein leckeres arabisches Mittagessen muntert mich ein wenig auf. Und tatsächlich, als ich dem Duft von Reis, frischem Gemüse und Hühnchen mit viel Knoblauch nachgehe, ist die Laune schon wieder viel besser. Mein Kollege Konstantin hat auch erst jetzt Zeit, zu essen und während wir uns gemeinsam über die typisch arabischen Spezialitäten hermachen, erzählen wir uns gegenseitig von unserem Tag und all den Gedanken, die uns so im Kopf herum gehen. Wie gut es tut, tolle Freunde an seiner Seite zu haben und auch, sich inmitten dieser fremden arabischen Welt ein kleines deutsches Nestchen gebaut zu haben, in dem man die Welt um einen herum auch mal vergessen kann. Später vertreiben wir uns den Abend mit Posaunenduette spielen. Wie so oft haben wir viel Spaß und aller Trübsinn ist verflogen. Die Musik tut der Seele gut!

 

... auf dem Herodion

 

Als ich am Abend dieses langen Tages im Bett liege, bin ich dankbar für alles, was ich während meines Freiwilligen Sozialen Jahres in diesem Land erleben darf. Für all die kleinen schönen Erlebnisse und auch für das, was weh tut. Und ganz besonders für die Musik, die die Kraft hat, Herzen zu öffnen und Menschen in aller Welt zu verbinden. Ich wünsche mir, dass sie es auch vermag, Israelis und Palästinenser miteinander zu verbinden, die Augen auf beiden Seiten füreinander zu öffnen und die Mauern in den Herzen zu überwinden. Denn nur durch Verständnis füreinander kann ein dauerhafter Friede entstehen. 

Katharina Stängle