Laetare / 22. März 2020
Pfarrerin Martina Lieb
Lesepredigt

 

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Jesaja 54, Vers 10

 

  

Liebe Gemeinde!

Angenommen, vor drei Wochen hätte mich jemand gefragt, ob ich das schon einmal erlebt habe: dass ein Berg weicht oder ein Hügel hinfällt. Ich hätte vermutlich eine Weile überlegt und dann gesagt: Ich kann mir das nicht vorstellen, dass solche Massen sich bewegen, ein ganzer großer Berg. Ja, vielleicht bewegen sich Berge über Jahrtausende und Jahrmillionen, aber nur ganz langsam und unmerklich. Jedenfalls nicht so, dass ich offenen Auges zusehen kann, wie da etwas zusammenbricht. Weichende Berge und hinfallende Hügel, das ist doch etwas völlig Unwahrscheinliches. Das widerspricht allen gewöhnlichen Erfahrungen.

Heute höre ich diese Worte völlig anders. Heute wirkt dieses Bild fast schon alltäglich. In der letzten Woche haben wir bald jeden Tag erlebt, wie Berge, die über Jahre und Jahrzehnte fest und stabil waren, plötzlich ins Wanken gekommen und in sich zusammengesunken sind. In diesen Tagen erleben wir, wie auf einmal im Lebensalltag alles anders ist, als wir es uns bis vor kurzem vorstellen konnten.

Hätte man mich vor drei Wochen gefragt: Kann es passieren, dass plötzlich die Schule aufhört und alle Kinder zu Hause bleiben, fünf Wochen lang, ohne dass Sommerferien sind, ich hätte gesagt: Was für ein abwegiger Gedanke! Wer denkt sich denn so etwas aus?

Hätte man mich gefragt: Kann es in unserem Land passieren, dass man sonntags nicht mehr zum Gottesdienst in die Kirche gehen darf? Ich hätte gesagt: Das sind Zustände, die es bedauerlicherweise in manchen Ländern gibt. Aber doch nicht bei uns! Unvorstellbar.

Hätte man mich gefragt: Kann es sein, dass Sie bei einer Trauerfeier nur noch zehn Menschen willkommen heißen und die restlichen 70 Trauernden wieder nach Hause schicken, weil eine Pandemie das erforderlich macht? Ich hätte vermutlich gedacht, dass mein Gegenüber einen schlechten Horrorfilm gesehen hat.

In vielem, was wir gerade im Alltag erleben, ist das, was unmöglich schien, auf einmal Wirklichkeit. Berge weichen und Hügel fallen. So viele Bilder des Leids gibt es, die uns aus den Fernsehnachrichten bewegen. Die Bilder von Menschen in Krankenhäusern, von Ärzten und Pflegenden, die noch unermüdlicher arbeiten als sonst. Und da ist nicht nur in Deutschland, sondern in andern Ländern noch mehr die Trauer um Menschen, denen am Ende im Kampf gegen das Coronavirus nicht mehr geholfen werden konnte. Wir denken heute an sie alle und an ihre Familien und Freunde und bitten Gott, dass er dieses Leid ansieht, mitträgt und tröstet.

 

Taube: Robin Deckert / Foto: Verena Deckert

  

Berge weichen und Hügel fallen. Was unmöglich schien, ist auf einmal Wirklichkeit. Das hat auch der Prophet erlebt, von dem die Worte unseres Predigttextes stammen. Jahrzehntelang war das Volk Israel schon im Ausland, in der Fremde. Alles, was das Leben früher in Ordnung gebracht hatte, das gibt es auf einmal nicht mehr: Es gibt kein eigenes Land mehr, keinen Tempel, keine gewohnten Gottesdienste, die gewohnten Rechte sind außer Kraft gesetzt.

Eine Situation, die ich in diesen Tagen ganz anders nachvollziehen kann.

"Gott hat sich zurückgezogen", sagten die Menschen damals zu Jesaja. "Er will nichts mehr von uns wissen. Er hat sich von uns abgewandt. Das spüren wir jeden Tag."

"Ja", sagt darauf der Prophet Jesaja, "aber nur für einen kleinen Augenblick. Die euch lang erscheinende Zeit, die ihr bisher hier in der Not und in der Fremde leben musstet, das ist nur eine kurze Zeit. Eine vorübergehende Zeit. Jetzt wendet sich Gott euch wieder zu. Mitten im Leid, mitten in der Not beginnt jetzt etwas Neues."

Neues beginnt mitten im Leid. Das ist die Botschaft des heutigen Sonntags "Lätare". Das heißt: "Freuet euch!" Freuet Euch, denn mitten im Leid beginnt etwas Neues. Das feiern wir an Ostern und bis dahin ist es nicht mehr weit. Und deshalb: Freuet Euch, freue Dich!

Das Neue beginnt mitten im Alten. Es scheint so weit weg und ist auf einmal doch schon da. Wir mussten vieles absagen. Das fiel uns schwer, das wird uns auch weiterhin schwerfallen. Vieles ist abgesagt: Gottesdienste, Veranstaltungen, Begegnungen, Familienfeste, Urlaubsreisen. Aber die Freude ist nicht abgesagt. Im Gegenteil: Sie ist angesagt, gerade jetzt. Und das mitten in der Passionszeit, in dieser Fastenzeit der Coronakrise, wo wir unfreiwillig auf so vieles verzichten. Freude ist angesagt, so widersprüchlich das klingen mag, selbst in der jetzigen Ausnahmesituation.

Österliche Freude ist angesagt. Das Festhalten an dem österlichen Glauben, dass selbst durch das größte Dunkel hindurch das neue, helle, freie, fröhlich-ausgelassene Leben wiederkommt, allem zum Trotz.

Das nicht aus dem Blick zu verlieren und die Freude ansagen, das ist unser Auftrag für heute und für die kommende Zeit. Wie wir das als Kirchengemeinde tun können ohne uns zu treffen, das beschäftigt uns sehr.

 

Taube: Tabea Deckert / Foto: Verena Deckert

  

Einige Ideen dazu gibt es schon: In der letzten Woche ist in verschiedenen Kirchengemeinden der Gedanke entstanden, für die neue Situation eine besondere Form der Nachbarschaftshilfe aufzubauen. Wir werden das in Dietlingen zusammen mit der Nachbarschaftshilfe der Sozialen Dienste Straubenhardt/Keltern tun. Gedacht ist an einen Einkaufsservice. Er soll helfen, dass die Menschen, die sich vor dem Virus besonders schützen sollten, das auch wirklich tun können.

Eine zweite Idee, die ich kurz vorstellen möchte, ist das Gebet "Licht der Hoffnung". In der kurzen Zeit seit einer Woche haben sich deutschlandweit über 1.000 Kirchengemeinden zu dieser Gebetsform zusammengefunden. Es ist eine ganz einfache Form. Um 19.00 Uhr läuten jeden Abend die Glocken der Andreaskirche. Einer von uns wird in der Kirche die Osterkerze entzünden und jeder ist eingeladen zuhause bei sich auch eine Kerze zu entzünden und ins Fenster zu stellen. Während des Glockenläutens sprechen wir ein Gebet und ein Vaterunser. So bleiben wir in Verbindung auch über die Distanz hinweg.

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer. Dieses Wort will uns inmitten aller offenen und ungeklärten Fragen mit Hoffnung und mit einem festen Halt ausstatten. Es will uns durch die neue Woche tragen und begleiten.  

Der Herr segne uns und behüte uns.
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über uns
und sei uns gnädig.
Der Herr erhebe sein Angesicht auf uns
und gebe uns Frieden.
  

Amen!