18. Sonntag nach Trinitatis / 30. September 2018
Pfarrer i. R. Reinhard Wettach

 

Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn, und er ging hin.
Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr! Und ging nicht hin.
Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Sie antworteten: Der erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Sünder kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes (der Täufer) kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Sünder glaubten ihm. Und obwohl ihr’s saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, so dass ihr ihm dann auch geglaubt hättet
Matthäus 21, Verse 28 - 32

 

Wir Menschen sortieren gern. Wir sortieren nicht nur Kartoffeln und Eier nach Güteklassen; wir sortieren auch Menschen. Und wenn wir alles sortiert haben, dann haben wir’s im Griff, dann können wir einschätzen und beurteilen. So sortieren wir die Kirchlichen und die Unkirchlichen, die Gläubigen und die Skeptiker, die Bekehrten und die Unbekehrten, die Ja-Sager und die Nein-Sager. Kurzum, wir sortieren gern.

Das war zur Zeit Jesu auch nicht anders. Da sortierte man auch. Damals gab es vor allem zwei große Gruppen: die Gerechten und die Sünder. Die Gerechten - dazu zählte man die Menschen, die mit großer Hingabe versuchten, die vielen Anweisungen jüdischer Frömmigkeit zu befolgen. Die Sünder - das waren die Menschen, die sich außerhalb der Ordnungen der jüdischen Gemeinde hielten oder dort gehalten wurden, die Gescheiterten, die Außenseiter, die Unmoralischen, Menschen also, die keinen Zugang finden konnten zu den anderen Kreisen. Und die Gerechten achteten sehr darauf, dass es zu keiner Vermischung der Sorten kam. So waren die Sünder im Grunde abgeschriebene Leute, abgeschrieben bei der Gemeinde und - so war die damals gängige theologische Auffassung - auch abgeschrieben bei Gott.

Wenn wir uns diese Verhältnisse klarmachen, dann können wir eigentlich recht verstehen, wie herausfordernd dieses Gleichnis Jesu von den beiden Söhnen damals gewirkt haben muss. Denn Jesus stellt die ganze Weltanschauung der Frommen seiner Zeit auf den Kopf. Statt dass er die Gruppe der Sünder abschreibt, tritt er für sie ein und ruft beide Söhne zur Umkehr. Denn beide sind Sünder. Und beide haben es nötig, dass sie umkehren und in die Nachfolge dieses Herrn kommen.

Da ist also der eine Sohn, der Ja sagt und Nein tut. Und daneben der andere, der Nein sagt und Ja tut. Oder anders gesagt: Beim einen geht es um die Gottlosigkeit der Gerechten, beim anderen um die Gerechtigkeit für die Gottlosen.

   

1. Die Gottlosigkeit der Gerechten

Kurz und klar wird hier erzählt: Der Mann ging zu seinem Sohn und sprach: Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute im Weinberg. Er sprach: Ja, Herr! Und ging nicht hin.  

Äußerlich scheint bei diesem einen Sohn alles in Ordnung zu sein. In der Gegenwart seines Vaters verhält er sich völlig korrekt, ganz so, wie man es von ihm erwarten kann. Er spricht wohlerzogen den Satz aus, den der Vater hören will. Er hat sich angepasst. Und doch ist innen längst alles zerbrochen. Sein Glaube, sein Gehorsam, sein "Ja, Herr!" ist nichts anderes als eine vorgeschobene Kulisse, hinter der sich sein eigentliches Leben abspielt: … und er ging nicht hin.

Man muss sich fragen: Was ist hier geschehen? Und wie deutet dieses Wort unsere Situation? Hier wird das Bekenntnis des Glaubens abgelegt, ohne dass es vom Leben und in der Nachfolge gedeckt ist. Das ganze Leben eines glaubenden Menschen kann zu einer einzigen Attrappe werden. Wer von uns wüsste das nicht, was das hier heißt: Ja, Herr! - und heimlich spielt sich ab: … und ging nicht hin. Hier wird eine Lähmung beim Namen genannt, die weithin über der Christenheit liegt, eine Lähmung, durch die viele Aufträge unseres Herrn einfach liegengeblieben sind. Wir erkennen, was Jesus von uns will - und tun’s nicht. Wir erkennen es möglicherweise schon lange - und tun’s nicht. Und wir singen weiter, und wir beten weiter, und wir leben weiter in frommen Formen - und tun’s nicht. Und das alles unter dem Vorzeichen: Ja, Herr!

Da sagt jemand: Ja, Herr, du bist für mich gestorben und auferstanden, du hast mich mit Gott versöhnt, ja, Herr! - und dann versagt er oder sie dort, wo ein Mitmensch auf ein Wort der Versöhnung wartet. Da sagt jemand: Ja, Herr, meine ganze Liebe gehört deinem Wort, und ich gehe dafür auf die Barrikaden! - und dann spielen ganz andere Dinge die entscheidende Rolle in seinem Leben.  

Da sagt jemand: Ja, Herr, es ist schlimm, dass die Unterdrückten nicht ihr Recht bekommen! - aber schon lange wartet ein Mensch neben ihm oder ihr auf ein Wort, das Frieden, das eine neue Situation schafft. Ja, Herr! - und ging nicht hin.  

Man kann sich schon fragen, wie es kommt, dass so mancher geistliche Neuanfang in der Christenheit, in den Gemeinden und in unserem eigenen Leben einfach steckenblieb. Ich meine, hier wird eine entscheidende Ursache dafür klar beim Namen genannt. Wir müssen nur hinhören auf das, was der Vater dem Sohn sagt und woraufhin der Sohn sich versagt: Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute!

Gehe hin! - Christlicher Glaube ist also offenbar nicht ein Ansammeln allgemeiner religiöser Wahrheiten, sondern ein Aufstehen, ein Aufbrechen zu konkreten Schritten des Gehorsams. Arbeite heute!

So werden wir durch die Geschichte von jenem Sohn, das Ja sagte und Nein tat, gedemütigt und aufgerichtet und auf den Weg gebracht. - Die Gottlosigkeit der Gerechten.

 

2. Die Gerechtigkeit für die Gottlosen

Der Vater im Gleichnis ging zum anderen Sohn und sagte zu ihm: Gehe hin und arbeite heute im Weinberg! Der antwortete: Ich will’s nicht tun. Danach reute es ihn, und er ging hin.

Wir haben keinen Grund, das Nein dieses anderen Sohnes zu idealisieren oder zu beschönigen. Sünde lässt sich nicht idealisieren. Sünde ist immer ein Elend. Aber Jesus hatte immer eine besondere Nähe zu diesen Angeschlagenen. Sie kannten ihre Not. Sie beschönigten nichts. Und sie traf das Wort Jesu: Mag das fromme Judentum euch abgeschrieben haben - Gott hat euch angeschrieben. Ihr seid keine erledigten Fälle.

So wird schließlich die Geschichte von den beiden Söhnen zu einer umfassenden Einladung an uns alle. Niemand ist verdammt zu bleiben, wie und was er oder sie ist. Der ganze Krampf frommer und unfrommer Gottlosigkeit kann gelöst werden. Auch die Letzten, die jede Hoffnung für sich aufgegeben haben, dürfen neu anfangen und umkehren.

Umkehr wird in der Heiligen Schrift immer wieder beschrieben unter dem Bild eines wunderbaren Festes, wo man isst und trinkt und singt und fröhlich ist. Da sind weit geöffnete Türen und reich gedeckte Tische. Da stehen Stühle bereit für die gott-losen Frommen wie für die gott-losen Sünder. Und Gott wartet, bis wir kommen.

Amen!