4. Sonntag nach Trinitatis / 9. Juli 2017 / Visitation
Dekan Dr. Christoph Glimpel

   

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRN, Jesus Christus.

Gelobt sei Gott, können wir nur sagen. Wir, die Visitationskommission des Bezirkskirchenrates Pforzheim-Land. Gelobt sei Gott für intensive, erfüllte Sommertage in Dietlingen. Gelobt sei Gott für das große Vertrauen, das uns hier entgegengebracht wurde, für die fantastische Gastfreundschaft. Gelobt sei Gott für Erlebnisse, die nachwirken, für Begegnungen und Gespräche, die zum Weiterdenken anregen, für Gesichter, die sich uns eingeprägt haben, für Stimmen, die lange nachklingen, für Klänge, die nachhallen, für Geschmäcker, die auf der Zunge bleiben … Gelobt sei Gott für kostbare Eindrücke und Erfahrungen, die wir mitnehmen in unsere Gemeinden, in den Kirchenbezirk, in die Landeskirche.  

Eine Sache will ich besonders hervorheben. Es handelt sich um eine Aktivität der Gemeinde hier in Dietlingen, von der ich zumindest nichts geahnt hatte. Es dämmerte mir am Mittwochabend bei der Bildungskonferenz, und sonnenklar wurde es dann am Donnerstagvormittag im Kindergarten: Die Kirchengemeinde Dietlingen ist ganz offensichtlich in die Brillenproduktion eingestiegen. Und es sind nicht irgendwelche Brillen, die hier produziert werden, nein, es sind Brillen mit Herz: Wer da durchschaut, der bekommt einen neuen Blick auf die Welt und auf die Menschen. Einen wirklich neuen Blick.

 

Bodo aus dem Kindergarten mit der Brille mit Herz.
Foto: Harald Ulmer

  

Herkömmliche Brillen schenken uns keinen wirklich neuen Blick. Herkömmliche Brillen verbessern nur unseren alten Blick auf die Welt: Ein Mensch, der seinen Nachbarn nicht mag, und der sich dann eine herkömmliche Brille kauft, der sieht seinen Nachbarn zwar schärfer, aber - er wird ihn weiterhin nicht grüßen. Eine Lehrerin, die ihre Schülerin für einen hoffnungslosen Fall hält, und die sich dann eine herkömmliche Brille kauft, die sieht ihre Schülerin zwar besser - aber sie wird sie weiterhin nicht fördern. Ein Einheimischer, der sich durch die Ankunft von Fremden bedroht fühlt, und der sich dann eine herkömmliche Brille kauft, der sieht die Fremden zwar schärfer - aber er wird sie weiterhin nicht persönlich kennen lernen wollen. Herkömmliche Brillen verbessern unseren alten Blick auf die Welt und auf die Menschen, sie schenken uns aber keinen wirklich neuen Blick.  

Anders verhält es sich mit den Brillen aus Dietlingen: Die Brillen mit Herz, sie schenken uns einen wirklich neuen Blick auf Menschen und Welt! Wenn ich die aufziehe, da sehe ich auf einmal meine Mitmenschen durch ein Herz. Da werden auf einmal alle Menschen ins Herz geschlossen.  

Aber in welches Herz werden sie denn geschlossen, liebe Gemeinde? Kann ich mich denn zwingen, alle Menschen ins Herz zu schließen? Auch jene, die mir unsympathisch sind, die mich belasten, die Ängste und Beklemmungen auslösen? Genügt es etwa, einen kräftigen moralischen Appell von der Kanzel zu hören, und schon flammt sie auf, die universale Menschenliebe in meinem Herzen, und alle Menschen werden Brüder und Schwestern?  

Nein, liebe Gemeinde, wir wissen alle, dass das so einfach nicht funktioniert. Mein Herz ist manchmal weit, aber ganz oft ist es klein und eng. Viel zu klein und viel zu eng, um alle Menschen aufrichtig lieben zu können. Christliche Liebe zu allen Menschen kommt nicht aus unseren Herzen, sondern sie kommt aus dem Glauben. Und weil sie aus dem Glauben kommt, darum ist sie nicht wankelmütig und nicht launisch und nicht schwankend wie unsere Stimmungen und Gefühle. Denn der Glaube schaut auf Gottes Herz. Und dort, in Gottes Herz sieht er seine Mitmenschen, er sieht: Gott hat alle Menschen in sein Herz geschlossen. Das ist der neue Blick, den wir gewinnen, wenn wir die Brille aus Dietlingen aufsetzen: Wir sehen die Menschen und die Welt, wie sie in Gottes Herzen sind. Und darum lieben wir sie und nehmen wir sie an: Nicht, weil wir sie lieben mit unserer launischen Liebe. Sondern weil Gott sie liebt mit seiner ewigen Liebe.  

Ich war mal mit einer Reisegruppe unterwegs, da war einer dabei, den konnte ich nicht ausstehen. Den fand ich unsympathisch. Er verhielt sich auch seltsam, und ich hatte den Eindruck: Die anderen, die mögen den auch nicht. Dann ging die Reise zu Ende, und am Bahnhof wurden wir abgeholt. Und dieser ganz offenbar unsympathische, schwierige Mensch, er wurde von seiner Frau abgeholt, und als die ihn begrüßte, da sah ich so unendlich viel Liebe in ihrem Blick. Dieser Blick hat auf einen Schlag alles geändert, ich begriff: dieser Mensch wird geliebt! Und ich habe ihn dann anders behandelt. Nicht, weil er mir sympathischer geworden wäre. Sondern allein deshalb, weil er von einer anderen Person geliebt wurde.

Genau das passiert, wenn ich durch die Dietlinger Brille schaue, durch die Brille mit Herz: Da sehe ich, dass Gott meine Mitmenschen in sein Herz geschlossen hat, dass Gott alle Menschen liebt. Er liebt sie absolut bedingungslos, denn Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Als wir noch Sünder waren, also als wir rein gar nichts vorzuweisen hatten, als wir unsympathisch waren und widerspenstig und frech und unverschämt und unerträglich und unmöglich, als es überhaupt keinen Grund gab, uns zu lieben, da ist Christus für uns gestorben.

Wenn ich durch die Dietlinger Herzbrille schaue, dann sehe ich diese Liebe, dann sehe ich, dass Gott meine Mitmenschen bedingungslos in sein Herz geschlossen hat. Und weil ich das sehe und weil ich das glaube, darum kann ich dann alle Menschen annehmen, darum können wir einander annehmen. Nicht, weil wir uns plötzlich sympathischer geworden wären, nicht weil Konflikte und Probleme verschwunden sind. Die christliche Gemeinde ist nicht der Ort himmlischer Harmonie. Sie ist aber der Ort, wo ich zu hören und zu sehen bekomme: Gott hat meine Nachbarn und meine Freunde, meine Gegner und meine Feinde, die Sympathischen und die Unsympathischen, Gott hat all diese Menschen in sein Herz geschlossen. Er hat auch mich in sein Herz geschlossen. Er hat alle in sein Herz geschlossen um Jesu Christi willen, der sein Leben gab für uns, der uns angenommen hat, als wir noch Sünder waren.

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Ehre, so lautet das biblische Leitwort dieser Gemeinde. Es steht im 15. Kapitel des Römerbriefes, und ich lege es heute aus in Verbindung mit jenem Wort aus dem 5. Kapitel des Römerbriefes, das eben lautet: Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Ich finde es wichtig, das Leitwort der Gemeinde im Zusammenhang des ganzen Römerbriefes zu lesen und zu deuten. Denn dann wird mir klar, dass es nicht etwa darum gehen kann, dass ich in brennender Liebe zu allen Menschen entflamme, dass ich feuertrunken singe "Seid umschlungen, Millionen". Es muss vielmehr darum gehen, dass ich auf Christus schaue, der für die vielen, der für die Millionen, der für die Milliarden gestorben ist.

Dass ich gerne alle Menschen lieben würde, das ist ein verbreiteter Wunsch. Das wollen nicht nur die Christen, das wollen auch die Heiden. Aber niemand schafft es, weder die Christen noch die Heiden. Wir überfordern uns mit einem Ziel, das nicht zu erreichen ist. Nicht wir sind es, die das Reich Gottes schaffen. Gott ist es! Darum muss ich auf Christus schauen, das ist der neue Blick! Da, und nur da sehe ich dann alle Menschen durch das Herz. Nicht durch mein schwankendes, launisches, wechselhaftes, unbeständiges Herz, sondern durch Gottes treues Herz. Das ist der wirklich neue Blick: der Blick auf Christus, der Blick auf Gottes Herz, der Blick auf das Kreuz.

Da sehe ich dann, dass Gott meine Mitmenschen in sein Herz geschlossen hat. Und darum, allein darum werde ich meinen Nachbarn fortan grüßen, obwohl ich ihn nicht mag. Darum, allein darum werde der Schülerin helfen, obwohl ich weiterhin meine, dass bei ihr Hopfen und Malz verloren sind und meine Zeit erst recht. Darum, allein darum werde ich mich dem Fremden respektvoll zuwenden, obwohl ich weiterhin meine, dass er integrationswilliger sein könnte.

Ich werde meine Sympathien und Antipathien, meine Urteile und Meinungen, meine Einschätzungen und meine Kritik nicht ablegen. Aber ich werde all dem ein kräftiges Trotzdem entgegensetzen: Es mag ja alles wahr sein, was ich denke und meine über andere Menschen, Gruppen, Gremien, Milieus usw. usf. Es mag ja alles wahr sein, aber: es gibt da noch eine andere, eine höhere Wahrheit, es gibt das Trotzdem des Glaubens: Trotzdem grüße ich, trotzdem helfe ich, trotzdem teile ich, trotzdem lächle ich, trotzdem habe ich Zeit, trotzdem mache ich weiter. Weil  Christus für uns gestorben ist, trotzdem wir noch Sünder waren.

Das ist das das Trotzdem des Glaubens, das nicht von dieser Welt ist, das aber kräftig in diese Welt hineinwirkt, wenn wir die Dietlinger Brille aufsetzen: Die Brille mit Herz, die Brille mit Gottes Herz. Ich nehme diese Brille mit aus Dietlingen, und ich nehme die Botschaft mit, die diese Brille transportiert. Es ist eine Botschaft, die glaubwürdig geworden ist in den vielen Begegnungen und Erfahrungen, die uns in den letzten Tagen geschenkt wurden hier in Dietlingen. Es ist eine Botschaft, die wir hier aufsammeln konnten, die da ist an diesem Ort, die diesen Ort mehr prägt, als manche und mancher denken mag. Das haben wir erlebt, das ist der Spiegel, den wir Ihnen vorhalten.

Und weil es so schön und verheißungsvoll ist, was in diesem Spiegel zu sehen ist, darum will ich sie alle bitten und ermutigen: Bleiben sie bei Ihrem Engagement für diese Gemeinde und an diesem Ort. Bleiben sie dabei, und wenn sie noch nicht dabei sind, dann kommen sie dazu. Die Argumente, die gegen ein ehrenamtliches Engagement in einer Kirchengemeinde sprechen, die gibt es. Es gibt sie hier und es gibt sie anderswo. Sie sind gewichtig, wir dürfen sie nicht unter den Tisch kehren. Aber es gibt das Trotzdem des Glaubens, der auf Christus schaut: Christus, der sich eingebracht hat mit allem, was er hatte und war trotz allem, was dagegen sprach - und eigentlich sprach alles dagegen.

Es gibt auch in Dietlingen viele, viele Menschen, die sich einbringen trotz allem, die sich einbringen aus Glauben. Wir haben ihn erlebt, diesen Glauben und wir ziehen unsere Wege fröhlich, gestärkt und bestärkt in unserem eigenen Glauben. Gelobt sei Gott für den Glauben an diesem Ort. Gelobt sei Gott für das Dietlinger Spitzenprodukt, für die Brille mit Herz, die uns einen neuen Blick schenkt, einen wirklich neuen Blick.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Denken und Planen, der bewahre unsere und eure Herzen in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen!