14. Sonntag nach Trinitatis / 28. August 2016
Pfarrer i. R. Wolfgang Raupp

   

 Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.
Römer 8, Verse 14 - 17

 

… und jetzt stehe ich vor der Frage, wie ich Sie anreden soll? - Wenn ich ernst nehme, was Paulus da schreibt, müsste ich sagen: "Liebe Kinder Gottes!" - Würden Sie das akzeptieren? Oder stört Sie da etwas? Wer sind wir denn? Was wollen wir denn sein? Was ist denn unsere Identität? Um diese Fragen geht es heute.

Drum frage ich Sie: Wer sind Sie denn? Natürlich sehe ich viele bekannte Gesichter vor mir. Eine ganze Reihe von Namen könnte ich aufzählen. Und der Namen sagt ja etwas darüber, wer wir sind. Bei den Frauen müßte man noch den Geburtsnamen dazu setzen. Das ist unsere natürliche Identität. Von unserer Familie sind wir geprägt. Manchmal könnte man sagen:  Ja, das war wieder einmal typisch Bischoff oder typisch Raupp. So sind die. Der Großvater war auch schon so.

In diese "natürliche Identität" ist man hineingeboren worden und dann hineingewachsen ohne dass man gefragt wurde. Man gehört dazu - ohne dass man viel dafür tun muss. Für manche ist diese "natürliche Identität" eher unwichtig.

Und wie ist es mit unserem Christsein? Mit unserer Zugehörigkeit zur evangelischen Kirchengemeinde? - Ist das auch so ein nebensächliches Element unserer natürlichen Identität?

Viel wichtiger ist vielen die "erworbene Identität". Jeder von uns hat selbst aus sich etwas gemacht, das ihm nicht schon in die Wiege gelegt wurde. Jemand ist Lehrerin geworden, KFZ-Meister oder Großhandelskauffrau. Mancher hat damit etwas entfaltet, was als Möglichkeit in ihm schlummerte. Diese persönliche Entfaltung ist vielen wichtiger als diese natürliche Identität. Aber sind wir damit wirklich schon beim Kern unserer Identität? Bin ich wirklich im Wesentlichen das, was ich aus mir gemacht habe?

Wenn Paulus uns heute sagt: "Ihr seid Gottes Kinder!", dann will er uns daran erinnern, dass wir mehr sind als das, was in unserer natürlichen Identität vorgegeben ist - und auch mehr als das, was wir selber aus uns gemacht haben. Er spricht uns da eine ganz neue Identität zu.

An vielen Stellen unseres Lebens spielen die zugesprochenen Identitäten eine ganz wichtige Rolle. Etwa wenn wir heiraten. Dann sagt er zu ihr: Ich nehme dich an. Du sollst meine Frau sein. "Wollen Sie das?", fragt der Standesbeamte. Und sie sagt "ja". Und dann umgekehrt.

Er ist nun ihr Ehemann, nicht von Natur aus, auch nicht nur, weil er das wollte, sondern weil sie ihn durch ihr Ja-Wort dazu gemacht hat. Und umgekehrt genauso. Der Standesbeamte beurkundet das lediglich. Und in der Kirche erhalten sie Segen und Fürbitte für ihr Leben in dieser neuen, geschenkten Identität.

Das meint der Satz: "So bezeugt der Geist unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind." Das sind wir nicht von Natur aus. Das können wir auch nicht selbst aus uns machen, etwa durch Training oder Kurse. Das wird uns zugesprochen durch den Geist, dann auch zugleich von einem Menschen. Bei unserer Taufe hat es die Pfarrerin über uns ausgesprochen: Du bist Gottes Kind. Gott bietet uns an, dass er für uns wie ein Vater sein will. Und wir dürfen seine Kinder sein.

Das Verhältnis zu den Eltern ist wohl die engste Beziehung, die es zwischen Menschen gibt. Beide, Eltern und Kinder sind von der selben Art. Ohne die Eltern wäre das Kind nicht da. Und ohne sie Könnten die Kinder in den ersten Jahren nicht leben. Die Eltern investieren viel Kraft und Zeit, damit die Kinder leben und wachsen können. Manchmal sind sie fix und fertig. Und zugleich gibt es nichts, was einem so viel Freude macht, als ein Kind im Arm zu halten und dann mitzuerleben wie er zu einer Persönlichkeit wird.

Am Anfang gehören die Kinder unlösbar zu den Eltern. Sie sind ein Teil der Eltern. Dann kommt eine Zeit der inneren und äußeren Ablösung. Diese erste Identität wird für die Jugendlichen immer unwichtiger. Oft entdecken die Kinder erste viele Jahre später, wieviel sie von ihren Eltern empfangen haben: Am Anfang ein Fläschchen, am Ende eine Erbschaft und manchmal entdeckt man Wesenszüge, die man von den Eltern empfangen hat und die man zu schätzen lernt.

Vieles davon ist im Glauben ist das ganz ähnlich. Jedes Mal, wenn wir in die Kirche gehen, werden wir angesprochen mit den Worten: Liebe Gemeinde, und da steckt eigentlich drin, dass wir Gottes Kinder sind. Denn er hat uns ins seine Familie aufgenommen. Und immer wieder werden wir eingeladen, an den Tisch Christi zu kommen. In all dem sagt uns Gott durch Wort und Zeichen, dass wir seine Kinder sind. Und wir hören das nicht nur, sondern erleben es. Es bestärkt und vergewissert uns in unserer Identität. Wir sollen und damit identifizieren in der Art wie wir leben.

Und wir - können wir uns so verstehen, als Kinder Gottes? Und in welcher Phase sind wir gerade? Fraglose Zugehörigkeit wie beim Kleinkind? Konflikthafte Ablösung wie beim Pubertierenden? Oder ein dankbares Ja sagen zu den empfangenen Prägungen, wie es reiferen Jahren möglich ist?

Manche - in Deutschland und in den Nachbarländern - machen sich in diesen Tagen Sorgen, wir könnten unsere Identität verlieren, nämlich durch die Flüchtlinge. Da kommen Leute zu uns, die anders sind, eine andere Sprache sprechen, einen anderen Lebensstil haben. Und einen anderen Glauben haben sie auch. Was soll denn da werden, wenn ein paar Hundert solche andere Leute hier in Keltern wohnen würden? Wäre das dann noch unser Dietlingen, in dem wir uns zu Hause und geborgen fühlen?

Manche, die in der politischen Landschaft weiter rechts stehen, befürchten, dass wir unsere Identität verlieren, weil wir vom Islam überrollt werden. Wie erleben diese Menschen ihre Identität, die auch irgendwie vom Glauben geprägt ist? Wenn man diese Identität nicht mehr erlebt und nicht mehr im Leben vollzieht, dann ist das eine abstrakte und diffuse Vorstellung, die uns keine Orientierung und keine Geborgenheit mehr gibt. Dann wächst die Angst.

Darum sagen manche "Nein! Das darf nicht sein. Da muss man zur Not einen Zaun um unser Land bauen, damit alles so bleibt, wie es ist. Und damit unsere Identität gewahrt bleibt. Und damit wir nicht in Angst leben müssen."

Die Identität vieler Menschen scheint auf etwas wackeligen Füßen zu stehen, wenn die Begegnung mit ein paar Fremden sie so sehr verunsichert. Auch vor diesem Hintergrund höre ich den heutigen Predigttext. Paulus schreibt an die Christen in Rom. Die leben ihr Christsein als Minderheit. Denen sagt er: Ihr seid Gottes Kinder. Nicht weil ihr so seid wie alle, sondern weil Gott euch als euer Vater begegnet. Darum dürft ihr seine Kinder sein. Das wird zu Eurer Identität, indem ihr euch von seinem Geist leiten lasst. Unsere Identität wird nicht dadurch gestärkt, dass wir uns von anderen abgrenzen, sondern dadurch, dass wir leben, was wir sein dürfen.

Darum rede ich Sie jetzt ganz bewusst so an: "Liebe Kinder Gottes." Freut euch, Gott hat euch als seine Kinder angenommen! In eurem Wesen und Lebensstil merkt man etwas vom Wesen eures Vaters, von seiner Barmherzigkeit und von dem weiten Horizont, in dem er denkt und handelt. Diese Identität gibt euch ganz neue Möglichkeiten zu leben.

Stellen Sie sich vor, was wäre, wenn wir uns hineinrufen ließen in diese Identität, als Gottes Kinder. Wenn das immer wieder aufleuchten würde in dem, was wir erleben, wie wir angesprochen werden und in der Art, wie wir unser Leben gestalten. Darin würde uns erst einmal selber immer wieder bewusst, dass wir Gottes Kinder sind. Dann kriegt nicht das Land einen Zaun, sondern um die Angst wird ein Zaun gezogen, weil wir als Gottes Kinder geborgen sind.

"Sind wir aber Gottes Kinder, so sind wir auch … Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden", schreibt Paulus. Damit will er klar machen, dass den Gotteskindern nicht alle Leiden erspart werden. Es wird ihnen ergehen wie Christus, der auch gelitten hat. Aber die Gottesskinder gehen nicht im Leiden unter, sondern werden aus den Leiden herausgehoben und zur Herrlichkeit geführt.

Ein bisschen Angst wird es dann immer noch geben. Das mag ja gut sein, damit man nicht leichtsinnig wird. Aber die Angst kann das Leben der Gotteskinder nicht regieren – und blockieren darf sie es erst recht nicht.

Und zweitens: Ich bin sicher, andere merken auch etwas davon, dass die anders sind diese Christen, die Flüchtlinge z.B. werden hoffentlich etwas spüren von der Zuversicht, die aus diesem Glauben kommt. Dann werden sie hier bei uns nicht vollends verzweifeln. Das würde auch ihnen Mut machen. Jeder von uns wäre ein Hoffnungsträger, der ihnen hilft ein neues Leben anzufangen …

Liebe Gotteskinder! Wenn wir uns das immer wieder sagen lassen, daß wir zu Gottes Familie gehören, wenn wir das immer wieder erleben, wenn wir uns an den Tisch unseres Vaters einladen lassen, dann wird das unserem Leben eine neue Qualität geben. Heute habt ihr es wieder gehört, was ihr seid. Nehmt es mit. Laßt es in euch wirken. Dann wird Gottes Wirklichkeit, die bestimmende Identität eures Lebens sein. Freut euch. Wir sind Gottes Volk!   

Amen!