1. Sonntag nach Trinitiatis / 7. Juni 2015
Entsendegottesdienst von Anna Vetter nach Palästina
Pfarrer Jens Nieper

  

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde. mir.
Lukas 16, Verse 19 - 31

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

"... damit wir klug werden" - unter dem Motto des diesjährigen Deutschen Evangelischen Kirchentages wird gerade in Stuttgart Gottesdienst gefeiert. Und wir feiern mit. Denn im Feiern mit Gott sind wir mit Christen an anderen Orten, aus anderen Traditionen und mit anderer Sprache verbunden. Mit Christen in den Nachbargemeinden, mit Christen in der Landeshauptstadt und mit Christen weltweit. Heute dabei besonders vielleicht auch mit den Christen im Heiligen Land.

"... damit wir klug werden" - dieses Wort steht auch dieser Predigt gut als Motto. Denn ums kluge Handeln geht es im heutigen Predigttext aus dem Lukasevangelium. Die Geschichte von dem Reichen und vom armen Lazarus haben wir ja gehört. Und weil es dort auch um den Tod und das ewige Leben bzw. die Verdammnis geht, ist es auch gut, sich bewusst zu machen, dass das Kirchentagsmotto ja nur ein Teilvers ist.

Einige werden es im Psalmgebet gemerkt haben, dass der Vers im Ganzen lautet: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden." (Psalm 90, Vers 12). Unsere Sterblichkeit und damit unsere Begrenztheit gehören also zu den Orientierungsmarken, wenn es um Klugheit geht. Und die Geschichte, die Jesus über den Lazarus und den Reichen erzählt, steht dazu in Beziehung.

Die Geschichte betont, dass das Klugwerden, das Lernen nur in diesem Leben funktioniert. Denn alles, was wir erkennen sollten, wenn wir dann das jenseitige Leben haben - egal ob es uns nach der Vorstellung dieser Geschichte in den Himmel oder in die Hölle führt - wird nichts mehr verändern. Wir werden im Jenseits zwar manches dann klar erkennen - aber es hilft nichts mehr, weil wir mit dieser Erkenntnis dann nichts mehr machen können.

Es gibt ein Zuspät. Es gibt einen Punkt, da ist die Entscheidung Gottes gefallen, wem er gnädig ist und wessen er sich nicht erbarmt. Das gilt ganz egal, welche Jenseitsvorstellung wir auch haben mögen - und da finden sich in der Bibel durchaus verschiedene.

Bei allen Vorstellungen ist aber deutlich: Es gibt einen Moment der Entscheidung. In diesem Moment wird Gott entscheiden, wessen er sich erbarmt und wessen nicht. Gottes Gnade und Barmherzigkeit mag dabei viel größer sein, als wir es erwarten. Gott wird wahrscheinlich mit viel mehr Liebe richten, als wir es uns vorstellen können. Gott wird sicher nicht nach unseren Maßstäben entscheiden - und darüber können wir nur froh sein.

Diesen Moment der Entscheidung Gottes - traditionell spricht man vom Gericht - verdrängen wir meist. Das ist verständlich, denn das Gericht ist ja nicht attraktiv. Denn niemand von uns kann sich ja sicher sein, auf welcher Seite er sich am Ende wiederfinden wird. Wartet auf uns der Himmel oder die Hölle?

Es gibt ja auch keinen festen Maßstab, der eine eindeutige Zuordnung erlauben würde. "10mal einem Bettler etwas gegeben - Himmel ... jährlich 49,99 Euro durchschnittlich für gute Zwecke gespendet - leider ganz knapp zu wenig, also Hölle."

Diese fehlende Eindeutigkeit kann zu zwei Reaktionen führen. Das eine ist ein fröhlicher Fatalismus: Gott werde schon allen und alles vergeben. Gott als Allversöhner. Fehlverhalten macht ja nichts - wir wissen ja eh nicht, was zu viel oder zu wenig ist. Also genießen wir das Leben und machen uns keine Gedanken. Verantwortung freigestellt: kann, muß aber nicht.

Die andere Reaktion wäre furchtsame, lähmende Angst. Angst, das Falsche zu tun. Angst, vor Gott schließlich keine Gnade finden zu können. Das Bild vom strafenden Gott herrscht dann vor. Dann macht man nur wenig, um höchstens kleine Fehler zu machen. Oder man macht gar nichts mehr. Höchstens macht man sich Gedanken - zu viele Gedanken - angstvolle Gedanken.

Unser Predigttext widerspricht diesen beiden Haltungen. Denn Abraham erinnert daran, dass der Mensch doch eigentlich weiß, was er tun soll, damit er nicht am Ende Gott fern ist.

Sei Klug! Werde klug! Wie? Indem du liest. Indem du hörst. Indem du dir zu Herzen nimmst, was dir die Bibel sagt. Wir haben Mose und die Propheten. Befolge, was dir dort geraten und geboten wird.

Dabei ist die Bibel natürlich kein Handbuch für alles und für jede Situation. Die Bibel ist keine "Gebrauchsanweisung" im engeren Sinn. Sie gibt nicht auf alle Herausforderungen eine direkte Antwort. Aber sie gibt Orientierung. Sie bietet Leitlinien. Sie enthält Wegweiser. Sie enthält Anregungen, mit denen man zu Antworten auf die Herausforderungen des Lebens kommen kann. Ansätze, um sich nach dem Willen Gottes auszurichten - und zu verhalten.

Neben diese Buchweisheit tritt nämlich noch eine zweite Art von Klugheit. Sie basiert auf Erfahrungen. Sie stützt sich auf das, was man erlebt hat. Sie fußt auf dem, was man tut. Es geht nun einmal nicht nur darum zu wissen, was das Richtige ist, sondern auch darum, dieses Richtige zu tun.

Und hier kommt der Dienst in den Blick, zu dem wir Anna Vetter heute entsenden. Anna wird freiwillig ein soziales Jahr ableisten. Sie wird Menschen unterstützen, die in weitaus schwierigeren Lebenslagen sich befinden, als wir es hier in Deutschland gemeinhin tun. Sie wird einen Beitrag dazu leisten, dass in der Welt ein wenig mehr Gerechtigkeit möglich wird, Menschen bessere Zukunftschancen erhalten und damit auch Frieden wachsen kann.

Anna Vetter tut damit etwas, was der Reiche aus dem Bibeltext offensichtlich versäumt hat: Die Lage seines Mitmenschen wahrzunehmen und sich um diesen zu kümmern.

Und Anna tut damit etwas, was in unserer Welt zwar nicht völlig ungewöhnlich ist, jedoch auch keineswegs normal und selbstverständlich. Es gibt nun einmal doch zu viele Menschen, die nur an sich denken, die es sich in einem angenehmen Leben bequem machen, die rücksichtslos leben. Denn sonst gäbe es ja in unserer Welt nicht so viel himmelschreiende Ungerechtigkeit, nicht so viel Unfrieden, nicht so viel Lieblosigkeit.

Dabei stimmt es: man muss es nicht wie Anna machen. Das Umsetzen von Gottes Willen in die Tat kann auch im Kleinen beginnen, hier in Keltern-Dietlingen, in Pforzheim, in Baden-Württemberg, in Deutschland. Mehr Liebe zu leben, mehr Gerechtigkeit zu realisieren, mehr Frieden zu schaffen - das kann in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und an der Arbeitsstelle beginnen. Das müssen keine großen Taten sein. Und doch muss es einfach jemand tun. Nun müßte sich der evangelische Zeigefinger erheben und kritisch nachfragen: "Geht es also doch darum, sich das Himmelreich zu verdienen? Nicht mit dem protestantischen sola gratia - allein aus Gnade?"

Es ist immer gut, vor dem Einzug einer Verdienstgerechtigkeit zu warnen. Gottes Liebe und Gnade muss man, ja kann man sich in der Tat nicht verdienen. Aber deshalb ist es wichtig, die Reihenfolge zu beachten: Zuerst handelt Gott liebe voll an uns Menschen. Zuerst tut Gott kund, was er erwartet. Zuerst gibt Gott Orientierung.

All unser Tun ist also nur Antwort auf das, was Gott längst gegeben hat. Unser Verhalten ist nur die Reaktion auf Gottes Aktion. Es geht also nicht darum, zuerst Leistung zu zeigen. Sondern es geht darum, Gottes Willen und Gottes Handeln nicht zu ignorieren. So ist es in der Tat so, dass wir nie wissen werden, wann es genug ist, was wir tun. Hier können wir nur auf einen barmherzigen und gnädigen Gott hoffen. Was wir aber wissen ist, dass es ein Zuwenig gibt. Wir wissen, dass man sich den Himmel nicht erarbeiten kann - aber uns ist allen bewusst, dass man den Himmel durch das, was man zu tun unterlässt, auch verpassen kann.

Darum mahnt uns die Bibel - "... damit wir klug werden".

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, sei mit euch und bewahre euch. Amen!