Exaudi / 20. Mai 2012
Themengottesdienst im Rahmen "Gemeinde leben & erleben"
Pfarrer Wolfgang Raupp

  

Liebe Gemeinde,

irgendwann - vor ein paar hundert Jahren - hat irgendeiner beschlossen, dass die Kirche in Dietlingen Andreaskirche heißen soll. Keiner weiß mehr, was er sich dabei gedacht hat. Andreas war früher der Heilige der Fischer und Fischhändler, der Bergleute, der Metzger und Seiler. Er wurde angerufen als Vermittler in Liebesangelegenheiten, für Eheglück und Kindersegen. Es würde mich ja schon interessieren, was davon in Dietlingen besonders nötig war. Aber ich glaube, das kriegen wir nicht mehr heraus.

Vielleicht hatte der, der den Namen ausgewählt hat, auch eher den ursprünglichen Andreas, den Apostel im Auge und hat gedacht: "Den sollen sich die Dietlinger mal anschauen!" Je länger ich hier in Dietlingen wohne, desto mehr denke ich, den Andreas sollten wir uns tatsächlich einmal näher anschauen. Lassen Sie uns das heute einmal versuchen. Was hat Andreas uns zu sagen? Das Erste, was wir im Neuen Testament von ihm hören, ist, dass er ein Jünger von Johannes dem Täufer war. Johannes war einer, der davon träumte, Gott würde Israel neu aufrichten. Ja noch mehr, die ganze Welt würde geheilt werden. Und dazu würde Gott einen "Messias", seinen Gesalbten senden. Er steckte seine Jünger und Zuhörer aber nicht nur an mit diesem Traum. Er sagte: "Tut Buße!" Stellt euch darauf ein, dass ihr bereit seid, wenn es soweit ist. Deshalb war er selber so unangepasst an die alten Verhältnisse, weil er mit dem Herzen schon im Neuen lebte. Und zu diesem Johannes gehörte auch Andreas. Der nahm nicht Anstoß an dieser anstößigen Figur. Im Gegenteil, er begann in der Erwartung zu leben, für die Johannes stand, in der Erwartung, dass das, was ist, noch nicht alles ist, dass da noch etwas kommt in der religiösen und in der politischen Welt.

Und da passierte etwas. Hören wir, was der Johannesvangelist erzählt:

 

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge? Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.
Johannes 1, Verse 35 - 42

 

Andreas hat diesen Fremden gefragt: "Wo ist deine Herberge?" Wir würden heute fragen. Wie kann ich dich erreichen? Kannst du mir deine Handy-Nummer geben oder deine Email-Adresse? Die Zeit für diesen Jesus von Nazareth war offenbar noch nicht gekommen. Aber Andreas wollte Kontakt mit ihm halten. Wenn es soweit wäre, wenn Gott durch diesen Jesus einen Neuanfang machen würde, dann wollte Andreas dabei sein. Andreas träumte von einer Erneuerung Israels. Aber er war kein Träumer. Er war bereit für den Transfer, für die Umsetzung der Hoffnungen und Träume in die Wirklichkeit. Und Jesus sah das und zeigte ihm, wo er wohnte.

Antoine de Saint-Exupéry schreibt: Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer. Andreas war einer, der Sehnsucht hatte nach dem weiten endlosen Meer, nach dem Neuen hinter dem Horizont, der nicht aufging in dem Fleckchen Wirklichkeit, in dem er lebte, einer, der die Verhältnisse nicht bloß kritisierte, sondern bereit war, für den Transfer der Hoffnungen und Träume in die Wirklichkeit auch etwas zu tun und einer, der andere anstecken konnte, mit seiner Gewissheit, den Messias gefunden zu haben: Er rannte nach Hause zu seinem Bruder Simon und rief ihm schon von weitem zu: "Wir haben den Messias gefunden. Willst du den nicht auch kennen lernen?" So lernt Simon Jesus kennen. Und Jesus lernt Simon kennen und sagt: "Du heißt Simon (der von Gott Erhörte). Wenn das Neue anfängt, wirst auch du dabei sein, ein Kephas wirst du sein, ein Fels, eine tragende Säule." Auch der Name Andreas hat eine Bedeutung. Wenn man das griechische Wort übersetzt, könnte man sagen "Mannskerl". So wird er auf den alten Bildern auch abgebildet, kräftig, eben einer, der hinlangt, wenn es nötig ist. Es gibt in Dietlingen etliche solcher Andreas und Andrease, Leute, die da sind, wenn sie gebraucht werden, und sich einsetzen – für andere, aber auch damit unsere Gemeinde blüht und wächst. Vor denen habe ich sehr viel Achtung.

Aber dann fange ich auch ein bisschen an zu träumen. Wie wäre es, wenn in Dietlingen ein paar mehr entdecken würden, dass sie eine Andrea oder ein Andreas sind? Dann bliebe nicht so viel Arbeit an den paar Andreasen hängen, die wir schon haben. Dann könnten wir neue Dinge anpacken und unsere Gemeinde würde reicher und profilierter werden. Das wäre doch wunderbar. Aber auch für uns selber wäre es gut, wenn das Bild des Andreas uns prägen würde. Wem wollen wir den gleichen, wenn nicht dem Andreas und dem Petrus? Wollen wir zu denen gehören, die immer nur kritisieren, was an der Kirche alles anders und besser werden müsste und selber aus ihrer Zuschauerrolle nicht rauskommen? Oder wollen wir zu denen gehören, die überhaupt keine Perspektiven haben und in ihrem Alltagskram versinken? Oder wollen wir zu den Resignierten gehören, die denken "Da kann man nichts machen!" und alles lassen, wie es ist? - Hallo! Wir sind die Leute von der Andreaskirche! Das soll etwas heißen!

Noch eine Geschichte von Andreas:

 

Als nun Jesus am Galiläischen Meer entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.
Matthäus 4, Verse 18 - 20

 

Ich habe mich lange Zeit gewundert, wie so etwas sein kann: Da sind die beiden Brüder beim Fischer. Am Ufer taucht eine Gestalt auf und sagt: "Kommt mit mir!" Und die lassen alles stehen und liegen und gehen mit ihm. So was gibt es doch nicht. Inzwischen bin fest davon überzeugt: Diese Notiz beim Matthäus ist die Fortsetzung der ersten Begegnung nach der Taufe Jesu, von der wir gehört haben. Die beiden haben auf den neuen Anfang gewartet. Als sie Jesus am Ufer stehen sahen, wussten sie: Jetzt geht es los. Jetzt hat das Warten ein Ende. Jetzt heißt es nicht mehr: "Später einmal - vielleicht - und wer weiß? - Jetzt!" Jetzt werden wir gebraucht. Denn wenn viele kleine Leute viele kleine Schritte tun, können sie das Gesicht einer Gemeinde verändern. Und sie ließen alles stehen und liegen.

Und wir versammeln uns jeden Sonntag in der Andreaskirche. Auch heute wieder. Macht mal die Augen auf! Steht da nicht wieder einer am Ufer und wartet auf seinen Andreas und seine Petra? Wie sieht es aus, - kann es losgehen?

Amen.