Trinitatis / 19. Juni 2011
Pfarrer Reinhard Wettach

  

Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein. Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst! und schrieen vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus aber streckte sogleich seine Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie traten in das Boot, und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
Lukas 5, Verse 1 - 11

 

Liebe Gemeinde!

Diese Geschichte gibt manche Rätsel auf. Und die Frage steht da: Wer kann diese Geschichte überhaupt verstehen? Am wenigsten wird sie wohl verstehen, wer sich aufhält bei der Frage, ob so etwas überhaupt sein kann und wie das sein kann, dass jemand auf dem Wasser geht. Am ehesten wird die Geschichte verstehen, wer sie nötig hat und wer etwas daraus lernen muss.

Unser Predigttext sagt uns zunächst etwas zum Bereitsein. Bereit sein - das ist die Fähigkeit, sich umzustellen, sich auf eine neue Situation einzustellen. Eine Fähigkeit, die besonders bedeutsam sein kann für uns.

Die Jünger Jesu hatten sich das ja sicher ganz anders vorgestellt an jenem Abend. Unmittelbar voraus geht die Speisung der Fünftausend. Man muss sich das einmal klarmachen: das ganze Feld ist noch voll von Menschen. Da ist Lachen und Fröhlichkeit und Fragen und Staunen. Und mittendrin Jesu Jünger. Eine großartige Erfahrung: fünf Brote und zwei Fische, und alle werden satt. Was für eine Gelegenheit, jetzt noch weiter dabei zu sein!

Aber dann schickt Jesus seine Jünger fort, ausgerechnet jetzt. Wo doch alles so schön ist! Ungewöhnlich hart und unmissverständlich sind die Formulierungen hier: "Auf der Stelle", so heißt es wörtlich, "auf der Stelle trieb er sie ins Schiff." Es ist doch ganz natürlich, dass die Jünger sich ungern lösen, dass fast Gewalt angewandt werden muss, um sie ins Boot zu bringen. Bereit sein - das ist nicht ganz einfach.

Das haben wir auch schon erlebt, dass an Tagen des Hochgefühls und des Glücks plötzlich und unvermittelt der Aufbruch in ein anderes kommt. Und dieser Aufbruch ist manchmal mit Schmerzen verbunden und manchmal mit Fragen: Warum gerade so? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt und gleich? Wo doch alles so recht war und so gut! Bereit sein - das ist nicht einfach.

Und nicht immer ist der Neubeginn sichtbar. Manchmal ist es eine Fahrt, scheinbar ohne Sinn. Was soll ich jetzt am anderen Ufer, wo doch hier an diesem Ufer das Leben ist? Ich glaube nicht, dass Jesus seinen Jüngern Erklärungen gegeben hat. Sie sollten einfach bereit sein. "Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe." - Bereit sein - das erste, was uns dieser Text sagt.

Allein sein - ist das Zweite. In der Regel ist Jesus dabei, wenn die Jünger am See Genezareth sind. Hier in dieser Geschichte bleibt Jesus am Ufer zurück. Er ist selber allein und lässt, so scheint es, die Jünger allein. Offenbar gehört ein Stück Einsamkeit zum Aufbrechen dazu. Das Alleinsein auf dem Schiff, das hinausfährt auf den See.

So abenteuerlich ist das sonst ja gar nicht. Normalerweise ist es eine Spazierfahrt, im See Genezareth von einem Ufer zum anderen zu fahren, zwölf Kilometer in der größten Breite. Aber darum geht es jetzt nicht. Alleinsein ist etwas, was man nicht ohne weiteres an Kilometern Entfernung abmessen kann. Man kann nebeneinander allein sein. Man kann einsam sein mit einem Weg, den man jetzt gerade zu gehen hat. Oder mit einer Entscheidung, die jetzt zu treffen ist. Alleinsein ist schwer zu lernen und schwer zu leben.

Bei Sonnenschein und am Tag, beim fröhlichen Rudern und Segeln ist Alleinsein kein Problem. Aber jetzt ist es dunkel, und der Wind, heißt es hier, ist ihnen entgegen. Und nun allein. Mit Sorgen allein. Mit der Anfechtung allein. Und mit dem Zweifel allein.

Aber - wir sind nicht allein. Er sagt: "Ich bin’s, seid getrost, fürchtet euch nicht!" Und wenn wir diese ganze Geschichte vergessen, auch das, was nachher von Petrus geschrieben ist - lasst uns das eine behalten: "Ich bin’s", sagt Jesus, "seid getrost, fürchtet euch nicht!" Das ist das Dritte an dieser Geschichte. Und das haben wir nötig zu hören und nötig zu lernen: Dort, wo man ihn gar nicht vermutet, ist er plötzlich da. Dort, wo man sie gar nicht oder gar nicht mehr erwartet, tut sich die Nähe Gottes auf. Über dem drohenden Wasser kann sein Erbarmen kommen: Ich bin’s, fürchtet euch nicht!

Manchmal ringen wir mit einem Erleben oder einem Schicksalsschlag, als wäre da ein namenloses Wesen am Werk, und werden nicht damit fertig. Und wir bräuchten nur Augen und Ohren aufzumachen, um zu sehen und zu hören: "Ich bin’s".

Verheißen ist es uns nicht, dass der See immer glatt ist und das Ufer leuchtet, dass jeder Ruderschlag voranbringt und das Schiff ruhig seine Bahnen zieht. Das gibt es auch, ganz gewiss, und wir sollten es nicht versäumen, uns dessen zu freuen und dafür dankbar zu sein, so lange es möglich ist. Aber für immer ist es uns nicht verheißen. Dies sollen wir lernen: zu warten auf das "Ich bin’s" und bereit sein auch für dieses "Ich bin’s".

Petrus will es genau wissen; Er hat das Gefühl: Jetzt muss etwas Besonderes geschehen. Ich glaube nicht, dass jeder und jede von uns Petrus sein muss. Ich glaube nicht, dass die Kirche Jesu Christi aus Menschen bestehen muss, die über das Wasser gehen können. Es sind ja damals auch nicht alle aufs Wasser gegangen. Freilich, jeder Schritt des Glaubens hat etwas an sich von dem Bereitsein und dem Alleinsein, von dem Wagnis, auf die Sicherheit zu verzichten und die Gewissheit zu erwarten.

Immer wieder haben die Schritte des Glaubens die drohende Tiefe und die hohen Wellen um sich. Und immer wieder kommt es darauf an, zu Jesus Christus wegzusehen, so wie es der Hebräerbrief sagt: "Lasst uns wegsehen, aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens."

Leute, die den See Genezareth kennen, sagen, dass dieser See manchmal aussieht wie ein blaues Märchen. Unser Leben ist kein blaues Märchen. Und diese Geschichte ist auch kein blaues Märchen. Sie redet auch von unseren Tagen und unserem Erleben. Aber sie führt uns in eine Wirklichkeit hinein, in der wir hören, was sich lohnt zu hören: "Ich bin’s". In der wir antworten lernen: "Ja, du bist’s" und wir erkennen, dass darin unser Leben umschlossen ist - mit seiner Schönheit und mit seiner Gefahr.

Und so beten wir: Meine Zeit steht in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir. Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden. Gib mir ein festes Herz, mach es fest in dir.

Amen.