1. Weihnachtstag / 25. Dezember 2007
Pfarrerin Katharina Vetter

  

Liebe Gemeinde,

es ist Weihnachten geworden - auch in diesem Jahr, auch in Dietlingen, auch bei uns ... Gott sei Dank! Weihnachten ist ja ein großes Geheimnis: es kann uns ganz unerwartet begegnen.

So ist es jedenfalls mir gegangen in diesem Jahr: Vor drei Wochen musste ich mit meiner Tochter zum Kinderarzt. Wir hatten ihn lange nicht aufgesucht. Auch für ein paar persönliche Worte war Zeit.

"Wie hätte sich die Menschheit entwickelt, wenn ER nicht ... so gemacht hätte?"

Ich war ziemlich verdutzt! Eine Scherzfrage vielleicht? "Wie hätte sich die Menschheit entwickelt, wenn ER nicht ... so gemacht hätte?", wiederholte der Kinderarzt.

Nun bin ich ja von unserem Kinderarzt so einiges gewöhnt ... und habe schon so manches anregende Gespräch mit ihm geführt.

"Sie meinen Adam, der so ... auf Eva zeigt?"

"Nein, ich meine den Engel, den Cherub. So weist er beide aus dem Paradies, auf Gottes Befehl hin. Wie hätte sich die Menschheit entwickelt, wenn er die beiden nicht vertrieben hätte?"

Hups - das war kein Scherz. Und eine echte Frage verlangt auch eine echte Antwort.

"Es tat ihm ja leid", habe ich gesagt "und deshalb ist er mitgegangen, raus aus seinem Paradies und sogar selbst Mensch geworden, mit allem drum und dran. Das feiern wir doch bald, an Weihnachten." Ein bisschen gestammelt war das schon. Aber das Wesentliche muss angekommen sein. Ich hab's daran gemerkt wie überrascht und befreit unser Kinderarztes gelacht hat.

  

Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.
Galater 4, Verse 4 - 7

  

So drückt Paulus in seinem Brief an die Galater die befreiende Botschaft aus. "Als die Zeit erfüllt war..." Das klingt so geheimnisvoll. "Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn." Als sei da etwas Altes zum Abschluss gekommen und nun begänne etwas ganz Neues. "Am Anfang war das Wort", schreibt der Evangelist Johannes. "Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott selbst war das Wort ... und durch diese Wort ist alles geschaffen, was geschaffen ist und es gibt nichts Geschaffenes, was nicht diesem Wort entspränge." Aber was war, bevor Gott sein Schöpfungswort sprach, bevor er sagte: "Es werde ..."

Der bekannte Autor Anselm Grün schreibt in seinem Weihnachtsbüchlein: "Gott hatte einen Traum. Er träumte die Schöpfung und er schuf sie."

Ich weiß nicht so recht ... Mich erinnert "träumen" zu sehr an Schlafen. Und wenn ich schlafe bastelt sich meine Seele Bilder und Geschichten zusammen, die sie mir bestenfalls als Wegweiser mit auf den Weg in den neuen Tag gibt. Bei mir ist es so: Wenn ich etwas wirklich Neues schaffen will, muss ich hellwach sein.

"Am Anfang war das Wort", schreibt Johannes. Wenn ich spreche, gebe ich meine Selbstgenügsamkeit auf. Ich setze voraus, dass mich jemand hört und spreche ihn an. Und vielleicht war vor Gottes Leben schaffendem Wort die Sehnsucht - eine übergroße Sehnsucht nach jemandem, der hört und antwortet. Ich stelle mir vor, wie Gottes Sehnsucht umgesprungen ist in helle Begeisterung: Ja, so stelle ich mir mein Gegenüber vor - ein Wesen, das mir wesentlich gleicht. Und dann - unendlich liebevoll - pflanzt Gott einen Garten an im Land Eden und bewässert ihn für sein einmaliges Geschöpf. Ein Paradies für Adam, den Erdling, den Menschen. Ja, Adam gleicht seinem Gott: Auch er hat Sehnsucht, Sehnsucht nach einem Gegenüber, das ihm verwandt ist - "Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein."

Und auch Eva trägt die göttliche Sehnsucht in sich: die Sehnsucht danach selbst schöpferisch tätig zu sein. Um dieser Sehnsucht zu folgen missachtet sie Gottes Verbot. "Esst nicht vom Baum der Erkenntnis!" Was dieser Sündenfall mit sich gebracht hat, erfahren wir alle bis zum heutigen Tag am eigenen Leibe: Entfremdung!

Wir erfahren die Welt nicht mehr aus erster Hand, wir "erkennen" sie. Wir entfremden uns von Gott, von uns selbst und von unseren Mitgeschöpfen - Menschen, Pflanzen und Tieren. Wir reden nicht mehr mit Gott und der Welt, sondern über sie! Wir sind nicht mehr verwoben in ein lebendiges Beziehungsgeflecht mit unserem Schöpfer und seinen Geschöpfen, sondern treten ihnen als Beobachter gegenüber, machen sie zu Gegenständen, zu Objekten unserer Erkenntnis.

Was hat solch ein Umgang noch mit schöpferischer Sehnsucht zu tun?

"Ach, das war der falsche Weg, Eva!"

Paulus schreibt an die Christen in Rom: "Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst ... seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes."

Gott weist Adam und Eva einen anderen Weg:

Hinaus aus dem Paradies und hinein in das leibhaftige Leben. Jetzt heißt es nicht mehr nur erkennen, sondern auch ackern im Schweiße unseres Angesichtes, wachsen lassen, dann gebären unter Schmerzen und endlich sterben lassen und selbst vergehen - kein Leben in Ewigkeit.

Doch Gott vertreibt seine Menschen nicht nur. Er selbst geht mit: Er geht mit auf den Acker und fragt Kain nach seinem Bruder Abel. Er weist Noah an, die Arche zu bauen. Er zieht mit Abraham und Sarah in ein unbekanntes Land. Er dient mit Jakob um Lea und Rahel. Er folgt Joseph in den Kerker des Pharao und zieht den Hebräern als Wolken- und Feuersäule voran. Ein Wüstengott wird er und will seine geliebten Menschen zähmen durch ein Gesetz, dass sie alle zu gleichberechtigten, gleichwertigen Mitgliedern des auserwählten Volkes macht. Ein fruchtbares, neues Land schenkt er ihnen.

Aber diese eigenwilligen Geschöpfe lassen sich nicht zähmen durch seine Gebote, sie legen sie nicht menschenfreundlich, sondern zunehmend gesetzlich aus. Und auch als Gott sie in die Hand fremder Mächte gibt und nicht eingreift als sie vertrieben werden, ändert das auf Dauer nichts.

Und dann: "Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste."

Gebote und Verbote - das Gesetz allein - hat nicht die Kraft entfaltet, die nötig ist, um uns wirklich zu Gotteskindern zu machen.

Vielmehr macht sich das Schöpfungswort selbst noch einmal auf den Weg. Es verlässt den Himmel und entließ den Engel mit dem feurigen Schwert von seinem Posten. Er muss die Tore des Paradieses nicht länger bewachen. Denn Gott hält das Paradies - das ewige Leben - die Unsterblichkeit - nicht fest wie einen Raub.

In seiner unerforschlichen Weisheit hat er vielmehr beschlossen, dass er Tod doch nicht das letzte Wort haben soll. Das letzte Wort ist von nun an wieder das erste Wort: Sehnsucht, Hingabe.

Dieses Wort verwandelt die Schöpfung und ihre Geschöpfe. Es wird selbst leibhaftiger Mensch. Gott verlässt seine Position uns gegenüber. Er bleibt nicht länger Gegenstand unserer Betrachtung. Sondern er verknüpft sich mit unserem menschlichen Fleisch und Blut. Er wird Kind, ein Bruder an unserer Seite, der mit uns spricht und uns neu mit ihm ins Gespräch bringt.

" ... damit er uns erlöste, ja damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: "Abba, lieber Vater!"

Weihnachten - Uraltes Geheimnis: Jesus ist geboren. Gottes Sehnsucht gewinnt Gestalt. Das Wort, das sich nach meiner Antwort sehnt, ist da: winzig klein. Die Hand eines Neugeborenen streckt sich mir entgegen. Sie bedroht mich nicht, verletzt mich nicht, tut mir keine Gewalt an. Sie will in Beziehung treten mit mir. Welch ein Wunder: Wir können zu Gott in Beziehung treten. Wir finden die richtigen Worte. In Jesus hat Gott unsere Menschensprache gelernt. Und bei unserer Taufe hat unser Herz seine Türen geöffnet und den heiligen Geist eingelassen. Der lehrt uns ein wesentliches Wort in Himmelssprache: "Abba!" Das heißt: "Lieber Vater!" Nach diesem Kosenamen sehnt sich Gott eine ganze Menschheitsgeschichte lang. "Lieber Vater!" das kann nicht einmal Gott zu sich selber sagen. Deshalb hat er uns geschaffen. Und nicht nur geschaffen, sondern auch zu seinen Kindern gemacht.

Weihnachten - Uraltes Geheimnis: Jesus ist geboren. Gott wird Vater. "Lieber Vater” auch für mich. Und Kinder, die erben auch. "So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott." Was erben denn die Gotteskinder? Und jetzt geht es mir wieder wie so oft: So viel habe ich geredet und jetzt weiß ich wieder nicht, wie ich das ausdrücken soll, ohne dass es hölzern wird und starr und irgendwie formelhaft. Ich versuch's trotzdem noch mal:

Weihnachten - Uraltes Geheimnis: Ich bin neu verflochten in einen schwingenden Leib mit Gott. Ich bin verflochten in einen schwingenden Leib mit allen, die auch Himmelssprache sprechen und Gott "Lieber Vater” nennen. Unabhängig von meinem Willen oder Vermögen werde ich neu geboren. Und ich wachse in dieser Gemeinschaft unter Gottes Obhut heran. Ich ahme seine Sehnsucht, seine Begeisterung, seine Hingabe nach wie ein Kind seine Eltern nachahmt. Und so werde ich immer mehr verwandelt. Was ich bin, wie ich handle wird dem Bild Gottes in Jesus Christus immer ähnlicher.

Weihnachten - Uraltes Geheimnis: Ich bin hier und jetzt neugeboren - ein unendlich lebendiges Gotteskind. "So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott."

Amen.