1. Advent / 2. Dezember 2007
Kantatengottesdienst "Dietrich Buxtehude"
Pfarrerin Katharina Vetter
im Gespräch mit Ingrid Stängle und Jürgen Reister

  

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

A: Ein festlicher Kantatengottesdienst war für heute angekündigt. Vielleicht haben Sie es im Blättle gelesen und sind extra deswegen gekommen. Vielleicht haben Sie sich auch gefragt: Kantatengottesdienst, was ist das? Und sind jetzt neugierig ... Manche sagen ja: das ist ein eigentümlicher Zwitter - halb Gottesdienst, halb Konzert ... nichts Halbes und nichts Ganzes. Andere meinen: Gerade die dichte Verzahnung von dargebotener Musik, gesprochenem Wort und gefeierter Liturgie mache den besonderen Reiz eines Kantatengottesdienstes aus. Ich bin sicher: Sie werden herausfinden, welcher Meinung Sie sich anschließen wollen. Im Mittelpunkt unseres Gottesdienstes steht die Kantate von Dietrich Buxtehude. Eine "Kantate", was ist das eigentlich?

B: Die Kantate (lat. cantare = "singen") bezeichnet in der Musik mehrsätzige Werke für Gesangsstimmen und Instrumentalbegleitung. Rezitative, Arien, Chorsätze, Choräle und instrumentale Vor- und Zwischenspiele können sich in beliebiger Anzahl abwechseln. Ihre größte Bedeutung erlangte die Kantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es gibt geistliche und auch weltliche Kantaten. Im 17. Jahrhundert bildete sich zunächst das Geistliche Konzert heraus, das wie die Motetten mehrteilig sein konnte. Zum Eingang und nach der Schriftlesung haben wir zwei Stücke von Wolfgang Carl Briegel gehört. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Form der Kantate entwickelte. Diese verbreitete sich bald im gesamten mitteldeutschen Raum. Ihre Blüte erlebt die Kantate im Barock. Die berühmtesten Kantaten-Komponisten des Barock sind Dietrich Buxtehude, Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann. Die deutsche Kirchenkantate entstand für den evangelischen Gottesdienst. Sie wurde als Wortverkündigung durch Musik verstanden und auch als eine besondere Form des Gotteslobes.

C: Wir wollen Sie zuerst in die Kantate einführen und dann Dietrich Buxtehude selbst zu Wort kommen lassen.

A: Den Kantatentext haben wir Ihnen abgedruckt. Er stammt vom Apostel Paulus, aus Römer 8, Verse 31 - 39. Dieser Abschnitt ist Predigttext am Altjahresabend. Wenn wir Innehalten, Bilanz ziehen, Gegenwärtiges und Zukünftiges bedenken, ermutigt er uns in Wandel und Übergängen. Das passt auch gut zum 1. Advent, denn heute beginnt das neue Kirchenjahr.

 

Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? wie geschrieben steht: "Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe." Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

 

C: Die Kantate hat mehrere Teile: Eingangschor und Schlusschor sind gleich: ausführlich, breit, feierlich. "Nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes ..." Und auch jeweils nach den Arien in den Teilen B und C taucht diese Aussage wieder auf: jetzt kürzer, bewegter, dringender.

A: "Nichts, nichts, nichts - nichts soll uns scheiden ..." So beginnt der Chor. Wir haben uns gefragt: Warum gleich dreimal "Nichts" am Anfang? Für Paulus war das sicher die kürzeste Aussage über das Geheimnis des Glaubens: Weil uns überhaupt nichts von Gottes Liebe trennen kann, dürfen wir uns in jeder Lebenssituation gehalten und getragen wissen als geliebte Gotteskinder. Ein starkes Bekenntnis ...

C: Bei "Liebe Gottes" lässt Buxtehude die Melodie immer absteigen. Das ist ja auch die Botschaft von Advent und Weihnachten: Gott neigt sich uns Menschen zu. Er beugt sich in seiner Liebe herunter zu uns in unser kleines Menschenleben hinein.
Später malt er aus, wie "scheiden" sich anfühlen kann: die Polyphonie(?) zwischen Frauen- und Männerstimmen ist aufgebrochen. Die Frauen eilen voran, hinweg - die Männerstimmen kommen wie ein Echo, ein Nachruf hinterher.

A: Und dann kommt eine bemerkenswertes Stelle. Die hat uns beim Proben auch immer wieder Mühe gemacht ... "Nichts, nichts..." heißt es und dann kommt plötzlich eine Pause - wie ein Loch. Leere, ein wirkliches Nichts: Ein ganzer Abgrund von Fragen und Zweifeln tut sich auf. Stimmt denn das, dass uns nichts scheiden soll, nichts scheiden kann von der Liebe Gottes? Oder ist es gerade "das Nichts", dass unseren Glauben an Gottes Liebe bedroht?
Ganze philosophische Schulen haben sich mit dieser Frage beschäftigt: "Warum ist etwas, und nicht viel mehr nichts?" haben sie gefragt. Und wie ließe sich das Nichts denken: Ist es die bloße Abwesenheit von etwas oder etwas Wesenloses, das nicht näher zu beschreiben ist? "Das Nichts nichtet." sagt M. Heidegger. Tatsächlich nur eine grammatische Fehlbildung wie Kritiker sagen?
Ich kenne jedenfalls ansatzweise die Erfahrung, dass der gähnende Abgrund meiner Zweifel und Selbstzweifel, meiner Lebensangst und meines Selbstmitleids mir den Lebenssinn zu rauben droht. Das vermeintliche Nichts, die Sinnlosigkeit schmälert meine Lebensfreude. Ich erkenne nicht mehr, wie ich mich gestaltend oder erleidend in die Welt einbringen könnte. Meine Lebendigkeit droht vernichtet zu werden. Sören Kierkegaard meint: Aus Zweifeln wächst Verzweiflung und diese Verzweiflung ist die Krankheit zum Tode.

C: Grenzsituationen des menschlichen Lebens nehmen die beiden Soli in Teil B und C auf. Sie sind wie Einwürfe in das scheinbar so starke Glaubensbekenntnis. Wie sieht es aus mit der Liebe Gottes angesichts von Trübsal und Leiden?

A: Angst, Verfolgung, Not, Hunger, Blöße, Gefahr und Tod ... Trübsal und Leiden, die Paulus im Lauf seines Apostellebens erlebt und durchlitten hat. Doch seine Zweifel sind verwandelt worden in Ermutigung.

C: Ob das nicht hohl klingt in den Ohren von Menschen, die auch heute noch vor Angst nicht aus noch ein wissen, weil sie verfolgt werden? Ob sich die, die vor Hunger sterben nicht verhöhnt fühlen? Obdachlosigkeit und materielle Not nehmen auch in unserer Gesellschaft zu.

A: Vielleicht erklärt das, warum das 3x Nichts des Chores jetzt so heftig kommt, so ohne Pause. "Einwurf abgelehnt", könnte man meinen.

C: Und im Gegenzug werden die Koloraturen, die die Liebe Gottes besingen, jetzt länger. Sie steigen auf, als wollten sie uns aus den Zweifeln und Anfechtungen herausheben.

A: Diesmal wird das Wort "scheiden" ganz anders vertont - wie ein langes ängstliches Zittern.

C: Manchmal ist das ja so, dass wir, wenn wir innerlich zittern und zagen, am heftigsten abwehren ...

A: Wer war Dietrich Buxtehude? Hatte er auch Erfahrungen mit Angst, Not und Zweifeln?

C: Dietrich Buxtehude war die hervorstechendste Gestalt des Hochbarock zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. 1637 wurde er als Sohn des Organisten Johann Buxtehude und der Helle Jaspersdatter vermutlich im dänischen Helsingborg geboren. 1641 siedelte die Familie nach Helsingör über, wo der Vater Organist an der St. Olafskirche wurde. Dietrich hat vermutlich dort die Lateinschule besucht. Seinen ersten Orgelunterricht bekam er vom Vater. Später arbeitet er selbst als Organist: an der Marienkirche in Helsingborg, bei der deutschen Kirchengemeinde in Helsingör und seit 1668 an St. Marien in Lübeck. Dort folgte er dem bekannten Franz Tunder nach, dessen Tochter er heiraten musste, um die Stelle zu bekommen. Als Werkmeister hatte er auch Verwaltungsaufgaben und die Rechnungsführung zu erledigen. Als Organist führte Buxtehude eine Reihe geistlicher adventlicher Abendmusiken fort, die sein Schwiegervater unter der Bezeichnung "Abendmusiken" eingeführt hatte und baute sie weiter aus. Buxtehude machte sich einen Namen als Komponist und virtuoser Organist. 1669 ließ er sogar Seitenemporen in der Kirche anbringen, um mehr Musiker unterzubringen. Am Ende seines Leben unterrichtet Buxtehude den jungen J. S. Bach, der zu Fuß die 400 km von Arnstadt in Thüringen nach Lübeck zurückgelegt hatte, um sein großes Vorbild persönlich kennenzulernen. Bach betrachtete Buxtehude als seinen prägendsten Lehrer. Anders als G. F. Händel und J. Matthesen hatte er aber wohl kein Interesse an der Stelle Buxtehudes, die sowohl wirtschaftlich als auch musikalisch begehrenswert war. Allerdings hätte man wie Buxtehude selbst, die Tochter des Vorgängers heiraten müssen. Am 9. Mai 1707 starb Dietrich Buxtehude in Lübeck, wo er in der Marienkirche nahe der berühmten Totentanzorgel beigesetzt wurde. Sein Werk umfasst 150 geistliche Vokalstücke, zahlreiche Werke für Orgel, ebenso wie für Cembalo, Streicher und Generalbass. Ein beträchtlicher Teil seines musikalischen Werkes ist vermutlich verloren gegangen. Über Buxtehudes Erfahrungen mit Angst, Zweifel und Leid können wir nicht viel sagen. Ich könnte mir aber denken, dass die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges auch in seinem Leben noch nachwirkten.

A: In Teil C gehen die Zweifel an der Liebe Gottes noch tiefer. Jetzt singen auch die tiefen Männerstimmen. Von Mächten und Gewalten, die wir weder fassen noch verändern können: Schicksal, Lebensbedingungen, Strukturen, Atmosphären - was eben so "in der Luft liegt" und uns den Lebensatmen abschnürt.

C: Und es geht auch um gewalttätige Menschen, um Unterdrückung, Ausbeutung und Machtmissbrauch. Auch um eine Gegenwart, in der wir uns im täglichen Allerlei verlieren. Und um die Zukunft, die wie ein erdrückender Sorgenberg auf uns zu rollt.

A: Ich habe den Eindruck, hier geht es um das Nichts, das ich vorhin gemeint habe: Die pure Angst, dass wir ausgelöscht werden könnten, als hätte es uns nie gegeben. Und dann wieder der gleiche abwehrende Aufschrei des Chores - mehr Wunsch als Bekenntnis jetzt?

C: Diesem Kampf zwischen Zweifel und Glauben folgt Teil D mit einem total anderen Charakter: Klar, frei, einfach, verständlich und nachvollziehbar heißt es jetzt:
"Denn Gott hat die Liebe so hoch ja getrieben,
dass er sich mit eigenem Blute verschrieben
in seinem geliebten und einzigen Sohn,
der mit ihm beherrschet den himmlischen Thron;
drum ist es vergeblich, was immer geschieht,
die göttliche Liebe verändert sich nicht."

A: So kann wohl nur jemand reden, der die Höhen und Tiefen menschlichen Lebens selbst durchlitten hat.

C: Ich habe den Eindruck: Paulus will niemanden belehren oder bekehren. Er erzählt nur, was er erlebt hat. Und auch Buxtehude drückt seine Zweifel und seine Lebensangst nicht weg. Er bekennt ganz schlicht: Gott kann immer nur seine Liebe schenken. Und er schenkt sie uns auch wirklich - in allen Lebenslagen, mitten in unseren Glauben und mitten in unsere Abgründe hinein.

A: Von der modernen Naturwissenschaft lerne ich gern: Das "Nichts" der Philosophen ist abstrakt. Denn selbst ein materiefreier Raum enthielte immer noch Wellen und Felder - also Schwingungen und Kräfte, die permanent neue Materie hervorbringen und vernichten. Von Paulus und Buxtehude lerne ich: jeder Abgrund meines Lebens ist gefüllt mit Gottes Liebe.

C: Na ja, dann müsste sich das "Da capo" des Eingangschors auch verändert anhören - obwohl es von den Noten her genau das Gleiche ist wie am Beginn.

A: Dann hören wir jetzt doch die musikalische Predigt.

Nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes
Kantate * BuxWV 77 Dietrich Buxtehude 1637 - 1707

A

   Nichts, nichts, nichts
   nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes,
   nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes,
   nichts, nichts, nichts.

B Arie

   Wie sollte wohl heißen das zeitliche Leiden,
   das Gottes Geliebte von Gott könnte scheiden?
   Wie sollte die Trübsal doch werden genannt,
   die solche kann reißen aus göttlicher Hand?
   Ach, wahrlich,
   nicht Angst, nicht Verfolgung und Not nicht Hunger,
   nicht Blöße, Gefahr oder Tod.

Chor

   Nichts, nichts, nichts
   nichts soll uns scheiden von der Liebe,
   von der Liebe Gottes,
   nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes.

C Arie

   Auch ist kein erschaffnes Vermögen zu nennen,
   das Gottes geliebte von Gott sollte trennen.
   Hier gilt weder Engel, noch Menschengestalt,
   nicht Fürstentum, Leben, noch Todesgewalt,
   was ist oder künftig soll werden gebracht,
   nicht Hohes, nicht Tiefes, noch einige Macht.

Chor

   Nichts, nichts, nichts
   nichts soll uns scheiden von der Liebe,
   von der Liebe Gottes,
   nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes.

D

   Denn Gott hat die Liebe so hoch ja getrieben,
   dass er sich mit eigenem Blute verschrieben
   in seinem geliebten und einzigen Sohn,
   der mit ihm beherrschet den himmlischen Thron;
   drum ist es vergeblich, was immer geschicht:
   die göttliche Liebe, die göttliche Liebe,
   die göttliche Liebe verändert sich nicht.

A

   Nichts, nichts, nichts
   nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes,
   nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes,
   nichts, nichts, nichts.