2. Sonntag nach Epiphanias / 14. Januar 2007
Schuldekan Thomas Schwarz

  

Er musste aber durch Samarien reisen. Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab. Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde. Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen. Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. - Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn und er gäbe dir lebendiges Wasser. Spricht zu ihm die Frau: Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser? Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh. Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt. Spricht die Frau zu ihm: Herr, gib mir solches Wasser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss, um zu schöpfen!
Johannes 4, Verse 4 - 15

 

Liebe Gemeinde,

Brunnen sind Orte der Begegnung. Da treffen sich Durstige, wie Verliebte, dort trifft man sich, wie sicherlich auch in Dietlingen, um einfach zu verweilen, ein wenig auszuruhen, Bekannte und Freunde zu treffen, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Die Romantik wusste den "Brunnen vor dem Tore" zu besingen. Manche uns gut bekannte Märchen beginnen oder enden an einem Brunnen, wie beim Froschkönig oder bei Hans im Glück. Wer weiß schon, wie viele Ehen an Brunnen begonnen haben, wie bei Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel?

Wer früher einen Brunnen hatte, musste sich keine Sorgen um das lebensnotwendige Wasser für Mensch und Tier machen. Bei Brunnen geht es aber meist um mehr als nur um das Wasser, da geht es um das Leben in seiner ganzen Vielfalt - vorausgesetzt man hat etwas zum Schöpfen. Wohl dem, der einen Menschen hat, der ihm beim Schöpfen hilft. Wohl dem, der sich nicht zu schade ist, einen Menschen um Hilfe zu bitten: "Bitte, gib mir zu trinken!" Ein Brunnen - er steht in unserem Bibeltext als Symbol - als Symbol für das tiefe Verlangen nach Erfüllung und Frieden. Eine leise Geschichte, mit viel innerer Bewegung und einer ganzen Reihe von Missverständnissen entwickelt sich da am alten Brunnen. Es geht um Religion, um die Tiefen unserer menschlichen Sehnsüchte. Worte und Gegenworte, Fragen und Antworten, sie schweben gleichsam zwischen dem Wasser als Durstlöscher und dem Wasser, das gut ist für das Herz. Wir werden hinein genommen in die Geschichte einer sanften Wandlung vom schrecklichen zum glücklichen Durst. Zunächst triumphiert der Materialismus, wie wir ihn zur Genüge kennen: Durst kennt jeder! Den ermüdenden Kreislauf von Trieb und Triebbefriedigung, der alles Leben antreibt. Am Ende eine innere Veränderung und Erneuerung. Wasser ist eben nicht gleich Wasser, und Leben mehr als Essen und Trinken. Aber zunächst gilt: Ein Brunnen im Garten ist noch lange keine sprudelnde Quelle. Wer zur Quelle will, muss bekanntlich gegen den Strom schwimmen. Und manchmal auch gegen sich selber. Die Frau aus Samarien geht zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen wie alle Tage. Sie will Wasser für die Küche, für den Durst, nicht fürs Herz. Was sie wirklich braucht, was ihr fehlt und wonach sie sich sehnt, das liegt versteckt, ganz tief unten in ihr. Ihre tiefe Sehnsucht nach Lebendigkeit ist ungestillt, trotz eines Lebens mit voll ausgelebter Lust, fünf Männern und dem sechsten, mit dem sie in wilder Ehe lebt. Ihre innere Leere und die bleibenden Wunden, nach jeder Trennung vermehrt und wieder frisch aufgerissen, sind nur zu ahnen. Die Hoffnung auf eine gelingende Beziehung hat sie immer wieder hinuntergeschluckt. Vergeblich hat sie auf ein Leben gewartet, das mehr ist, als sich selbst immer nur weggeben zu müssen. Sie will die tägliche Ration Wasser holen. Sie hat Durst, einen Durst, den wir alle kennen. Den anderen Durst, den versteckten und unterdrückten, kennen wir ebenso. Den Durst auf das andere Wasser, das das Herz erfüllt und zur Ruhe kommen lässt. Dieser Durst ist die Kehrseite oberflächlichen Genusses, nach dem "Ich will alles, jetzt und am besten sofort."

Wir spüren es immer deutlicher, dass auf diesem Weg der Durst nur noch größer wird. Die Suche nach den eigentlichen Lebensquellen ist in unserem Alltag meist verstellt von seichten Fragen: "Was kriege ich? Was habe ich davon? Wo kriege ich es billiger? Was bringt mir das?" Jesus spricht diese Frau an, vor den Toren des Dorfes Sychar. Bezeichnend ist, dass der Brunnen, an dem sich Jesus zur Rast niederlässt, während seine Jünger zum Dorf weitergehen, um dort Essen zu besorgen, in Sichtweite des Garizim liegt, des heiligen Berges der Samaritaner mit dem von den Juden zerstörten Heiligtum. Es ist der so genannte "Jakobsbrunnen", den man heute noch besichtigen kann. 30 Meter tief führt er fließendes Quellwasser, ist allerdings der am weitesten vom Dorf entfernte Brunnen. Jesus, der Jude, geht durch Gebiet der Samaritaner. Jesus, der Rabbi, spricht eine Frau an. Diese Frau ist Samaritanerin. Eine dreifache Unmöglichkeit. Und die Frau ist entsprechend durcheinander. Sie will ihn verstehen, bricht aber immer wieder ein mit ihren Versuchen. Er bittet sie um Wasser. Er hat kein Gefäß, um zu schöpfen. Sie reagiert erstaunt, fast sogar erschrocken. Sie kann es nicht fassen, dass ein Jude sie anspricht. Ein Jude will aus einem Gefäß trinken, das sie benutzt hat. Unmöglich! "Wie kommst du darauf, mich anzusprechen und um Wasser zu bitten. Du bist Jude und Mann! Ich bin Samaritanerin und eine Frau!" Jesus wird nun persönlich, er bringt sich jetzt selbst ins Gespräch. Er kommt von seinem Durst nach kühlendem Wasser zu sich selbst als dem Geber lebendigen Wassers. Die unbefangene Frau bleibt in ihrer Befangenheit stecken, sie spricht vom fehlenden Schöpfgerät und von menschlicher Alltagsweisheit, dass der Mensch, wenn er gegessen und getrunken hat, sofort wieder fragen wird: Was nun?

Aber Jesus lässt sich nicht einfach nur den Becher füllen. Behutsam und ohne Berührungsängste führt er sie weiter auf einem Weg, der sie selbst ihren tieferen Durst sehen lässt. Er schimpft sie nicht als oberflächliche, dumme Frau. Er macht ihr keine Vorwürfe wegen ihres liederlichen, unsteten Beziehungslebens. Jesus, der Christus, versteht sie besser, als sie sich selbst versteht. Er, der das andere Wasser, anderes Leben, mehr Leben zu geben hat, lässt sich ganz auf sie ein und sagt ihr persönlich: "Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten. Dieses Wasser wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das ins ewige Leben fließt." Und noch immer sucht sie Wasser für die Küche, am besten wäre natürlich tag täglich frei Haus. Es ist ja auch nicht einfach, durch all die Bedürfnisse und Sehnsüchte hindurch zu dringen und aus dem Teufelskreis unerfüllter Wünsche heraus zu kommen. Scheinbare Durstlöscher wie schnelles Leben, schnelles Lieben, schnelles Genießen halten uns alle mehr oder weniger im eisernen Griff. Sanfte Gefühle, leise Töne des Herzens, unterdrückte Empfindungen auszudrücken oder gar auszusprechen, kostet viel Mut.

Ersatzbefriedigungen locken geil und sau billig! Sie sättigen schneller und leichter als tiefgehende Brunnengespräche. Fast food für die Seele. Die Verpackung zum Wegwerfen. Es ist schwer, jene Quellen am sprudeln zu erhalten, die uns Leben in seiner ganzen Fülle, Hoffnung in ihrer ganzen Weite und Vertrauen in seiner ganzen Tiefe geschenkt haben. Es wäre natürlich spannend zu wissen, wie das mit dieser Frau weiterging. Ob die alten Strukturen auf Dauer wieder gegriffen haben. Ich befürchte es fast. Es ist ja unter uns nicht anders. Es war auch damals nicht anders. Petrus fiel um und Judas. Thomas traute lieber seinen Augen.

Nicht anders unsere Sicherheiten, die Rollen, die wir trainieren und spielen, der Stahlbeton um uns, die Medizin im Schrank, die Ängste, die wir ausstehen, und der Preis, den wir für ihre Unterdrückung bezahlen. Es bedarf eines starken Lebenswillens zum Überleben, eines Trotzes gegen alle Grenzen, die uns töten. Die Quelle für diesen Willen ist für uns Christen nicht die Medizin im Schrank und auch nicht ein gesundes Leben. Die Quelle ist Jesus Christus selbst. Da ist einer, der behebt unseren Mangel. Am Ende zählt nicht unser leerer oder voller Krug am Brunnenrand, sondern dass er kommt. Und diese Begegnung mit Christus, so hoffen wir, wird auch den letzten überzeugen, in Sychar nahe dem Garizim und in dem Fleckchen Erde zwischen Nordsee, Ostsee und den Alpen, das wir unsere Heimat nennen.

Amen.