10. Sonntag nach Trinitatis / 20. August 2006
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Heute hören und bedenken wir einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaja. Wir machen uns bewusst: dieser Abschnitt steht im Alten Testament, in der hebräischen Bibel, im heiligen Buch der Juden. Mit ihnen hören wir auf das Wort des einen und einzigen Gottes. Was für ein Geschenk, dass wir das tun dürfen!

  

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du soviel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen Heiliges Volk, Erlöste des HERRN, und dich wird man nennen Gesuchte und Nicht mehr verlassene Stadt.
Jesaja 62, Verse 6 - 12

 

Was lernen wir als Christen mit den Juden und von den Juden mit Hilfe dieses Prophetenwortes?

1. Beten im Angesicht der Trümmer

Zur Zeit des Dritten Jesaja liegt die Stadtmauer Jerusalems noch an vielen Stellen in Trümmern. Der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. Äußere und innere Müdigkeit macht sich breit. Da hat der Prophet Wächter auf die Mauertrümmer gestellt. Wächter sollen Ausschau halten nach dem Feind. Aber da ist kein äußerer Feind. Der Feind lauert innen: in resignativer Müdigkeit. In Stimmen wie diesen: "Es hat doch alles keinen Sinn. Gott hat uns vergessen!" Darum sollen die Wächter Tag und Nacht nicht schweigen. Sie sollen zu Gott rufen, ihn über den Trümmern erinnern an seine Verheißungen. Sie sollen Gott keine Ruhe lassen, bis Jerusalem wieder aufgerichtet und aufgebaut ist und berühmt unter allen Völkern.

Beten, unaufhörlich Gott in den Ohren liegen im Angesicht der Trümmer! Das hat Israel gelernt. Das dürfen wir von und mit Israel lernen. Dass wir’s tun, ist nicht selbstverständlich. Trümmer machen auch stumm, treiben Menschen in die Verzweiflung. Und in wie vielen Trümmern und Katastrophen ist Gott schon umgekommen, haben Menschen ihren Glauben verloren!

Und wieder sehen wir Trümmer, zerschossene Häuser in Haifa, in Beirut, in den Dörfern im Süden Libanons. Wir können uns kaum vorstellen, wie es denen zumute ist, die ihr Zuhause verloren haben, die Menschen verloren haben. Was soll werden? Die einen suchen Halt und Zukunft im Hass gegen die Israelis, die anderen vertrauen auf ihre militärische Schlagkraft gegen die Hisbollah, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israel ist. Aber was für eine Zukunft wird das sein, wenn sie erwächst aus Hass und Vertrauen auf militärische Stärke?

Ich bin ratlos. Viele sind ratlos. Aber was ich beim Propheten Jesaja gelesen habe, lässt mich nicht verstummen. Es macht mir Mut, im Angesicht der Trümmer zu beten, Gott in den Ohren zu liegen, ihn zu erinnern an seine Verheißungen für Israel und alle Völker.

Manchmal sind die Trümmer auch ganz nah, bedrängend nah. Da ist eine Beziehung zerbrochen. Dort ist eine "Erziehung" irgendwie gescheitert. Lebenspläne wurden durchkreuzt. Wir sehen Scherben und reiben uns wund. Manchmal suchen wir die Schuld bei den anderen, manchmal bei uns. Wie oft verstehen wir dann einfach die Welt nicht mehr. Beten, zu Gott rufen im Angesicht der Trümmer: "Richte uns wieder auf. Schenk uns doch Zukunft." - das dürfen wir. Das lernen wir von und mit dem Glaubensvolk der Juden.

2. Gott will Leben, Schalom, Frieden - das lernen wir von und mit den Juden.

Wunderbar malt uns der Prophet diesen Heilswillen Gottes vor Augen. Mit seiner rechten Hand, dem Sinnbild seiner Macht, verbürgt sich Gott für die Einlösung seines Willens und seiner Zusagen: "Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du soviel Arbeit gehabt hast, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums."

Säen und ernten, das Brot essen und den Wein genießen: was für Urbilder für  das Leben im Frieden. Das will Gott! Das will er für sein Volk und für alle Völker! Das entspricht seinem Wesen, seinem innersten Wollen. Gott kann auch anders. Israel hat das erfahren, bitter und schmerzlich. Und vielleicht haben wir es auch schon erleben: Er nimmt uns die Früchte unserer Arbeit weg. Wir erleben Krieg und Feindschaft und darin das Unheimliche, dass Gott richtet. Die Bibel verschweigt diesen Gedanken nicht. Das Bild von Gott, das die Bibel zeichnet, ist nicht glatt. Gott kann weh tun, aber das ist nicht sein eigentliches Wesen. Er will Leben, Heil, Schalom, Friede. Das Brot, das die Menschen essen und der Wein, den sie trinken, lassen uns seinen Heilswillen schmecken. Und nun denken wir Christen natürlich auch daran, dass wir hier im Haus Gottes immer wieder das Brot und den Kelch nehmen im Namen Jesu und den Frieden und die Versöhnung leibhaftig schmecken, die Gott uns gönnt in und über allem, was zerbrochen ist in unserem Leben. Und wir ahnen vielleicht und rühmen es dankbar, wie viel es gekostet hat, damit wirklich Frieden wird und Vergebung nicht nur ein Traum bleibt oder eine fromme Rede.

Das lernen wir von und mit den Juden, dass Gott ein Freund des Lebens ist, dass er Friede will und wir glauben, dass er in Jesus Christus gekommen ist und immer noch da ist, um die Mauern der Feindschaft und des Hasses und der Sünde einzureißen und wegzuschaffen.

3. Mit den Juden lernen wir adventlich leben und hoffen. "Geht hinaus durch die Tore!" ruft der Prophet den Bewohnern Jerusalems zu. Mauert euch nicht ein in den Trümmern eurer Pläne und trauert nicht vergangenen Zeiten nach. "Siehe, dein Heil kommt!" Geht der Zukunft entgegen. Gott gehört die Zukunft. Er ist im Kommen. "Gott kommt und schweigt nicht!" Dieser adventliche Ruf klingt durch die Bibel hindurch wie ein Fanfarenstoß und weckt die, die im Glauben eingeschlafen sind oder noch nie so richtig wach geworden sind, auf. Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt! Das Größte und Aufregendste steht immer noch aus: dass Gott aus seiner Verborgenheit heraustreten wird, dass er sichtbar wird in seiner Herrlichkeit allen Glaubenden zum Trost, allen Ungläubigen zur Beschämung. Und mit seinem Kommen erwartet der Prophet nicht die Vernichtung alles Gott-feindlichen - das steht hier nicht im Vordergrund-, sondern das Heil, den Schalom, ein letztes Heil- und Ganzwerden, ein Zusammenkommen derer, die zusammengehören, weil Gott sie erlöst hat, weil sie zu seinem heiligen Volk gehören. Ein Zeichen für die Völker soll aufgerichtet werden, sagt der Prophet. Gott selbst hat es aufgerichtet, als nach zweitausend Jahren der Zerstreuung nach dem Zweiten Weltkrieg Juden aus allen Ländern sich im Staat Israel  wieder gesammelt haben. Ein Zeichen für seine unbeirrbare Treue und sein Festhalten am Bund mit seinem ersterwählten Volk.

Das muss doch auch für uns Christen, nach allem, was wir den Juden angetan haben, ein beschämendes Zeichen Gottes sein. Vielleicht müssen wir ganz neu und demütig darüber staunen lernen, dass Gott uns im Glauben an Jesus Christus gerufen hat, auch zu den Erlösten des Herrn und zum heiligen Volk zu gehören. Das ist nicht unser Besitz. Das ist Gnade.

Adventlich dürfen wir leben, im Dunkel der Zeit uns anstecken lassen vom Licht dieser Hoffnung: "Siehe, dein Heil kommt!"  Und dann werden uns allen die Augen aufgehen, wenn im kommenden Heiland Jesus auch die Juden ihren Messias erkennen und begrüßen.

Über den Trümmern Gott an seine Verheißungen erinnern, weil er doch Leben und Frieden versprochen hat und seiner Zukunft entgegen gehen- es ist viel, was wir von und mit den Juden im Glauben lernen und teilen dürfen.