Heilig Abend / 24. Dezember 2005 / Christvesper
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Lukas 2, Verse 1 - 20

 

Weihnachten ist dort, wo sich Türen öffnen. 

Die erste Tür ist eine Haustür.

Josef wandert drei oder vier Tage mit seiner schwangeren Frau Maria von Nazareth nach Bethlehem. Er muss dorthin, nicht weil er dort eine Klinik mit Entbindungsstation sucht, sondern weil der Kaiser es befohlen hat. Die Befehle und Anordnungen von Machthabern pflegen in der Regel keine Rücksicht zu nehmen auf die Belange des kleinen Mannes und der kleinen Frau. Schwanger hin, schwanger her, er muss gehen und sie muss mit. Seine Vorfahren stammen aus Bethlehem. Dort muss er sich registrieren lassen. Wozu? Der Kaiser braucht Steuern, und darum müssen die Untertanen und ihr Besitz registriert werden. Ihr seht: die Sache mit den Steuern ist eine alte Sache. Die bewegt nicht erst heute die Gemüter. Wo soll Josef mit seiner Frau unterkommen in Bethlehem? Nähere Verwandte haben sie dort wohl nicht mehr. Vielleicht fragen sie im Gasthaus zum Lamm oder irgendwo ganz privat. Die Türen bleiben zu. "Ach du liebe Zeit, eine Schwangere, vielleicht kommt bald das Kind. Nein, die Umstände und am Ende zahlen die nicht!" Ihr seht: auch das ist nicht neu: Türen bleiben zu. Kinder, ja! - aber bitte nicht im Haus. Die schreien und lärmen. Familien mit vielen Kindern, die eine Wohnung suchen, können wohl ein Lied von verschlossenen Türen klagen. Am Ende geht dann doch eine Tür auf. Ein Stall nur. Und hier kommt das Kind zur Welt und der Futtertrog muss als Bettchen dienen. Wie armselig, aber immerhin ein Dach über dem Kopf. Im Katastrophengebiet in Pakistan haben Tausende nicht mal ein Dach über dem Kopf. Sie werden frieren, viele werden erfrieren. Habt Ihr schon mitgeholfen durch eure Spenden, eine Tür für diese leidgeprüften Menschen aufzutun? Das muss weh tun, wenn man draußen steht und die Tür bleibt zu, weil sie unter den Trümmern seines Lebenshauses begraben ist. Vielleicht sind einige unter uns, die im zurückliegenden Jahr "freigesetzt" worden sind und jetzt arbeitslos auf der Straße stehen. Das tut weh, wenn die Tür zur Arbeit verschlossen bleibt und weckt nach und nach so ein Gefühl von Minderwertigkeit. Das hat Jesus also noch im Bauch der Maria erlebt: draußen stehen vor der Tür, nicht aufgenommen werden, abgewiesen werden. Er hat es auch später erlebt. Nicht alle haben ihm Beifall geklatscht. In Nazareth, seiner Heimatstadt, wo er groß geworden ist, da haben sie ihn nach seiner ersten öffentlichen Predigt, aus der Stadt gejagt. Sie wollten ihn sogar töten. Am Ende stirbt er am Kreuz vor den Stadttoren Jerusalems. Nicht drinnen, draußen haben sie ihn erledigt. Hat er keinen Raum unter den Menschen? Weihnachten ist, wenn sich ihm eine Tür öffnet. Ich bin selber wie eine Tür. Manchmal verschlossen und zu, manchmal offen, einladend offen. Hat Jesus Raum in meinem Leben? Darf er in meinem Denken und Planen zur Welt kommen?  Gibt es da in meinem Leben so eine kleine religiöse abgezirkelte Ecke? Eine Weihnachtsecke, die ihm vorbehalten ist? Ach, es könnte ja der Anfang sein, der Anfang dafür, dass ich anfange, ihm wirklich Raum zu geben in meinem Leben. In Bethlehem war’s ja auch nur ein Futtertrog, aber da  nahm seine Geschichte ihren Anfang und ist immer noch nicht zu Ende. Wir wären ja hier nicht zusammen, wenn er nicht immer noch unter uns Quartier suchte. Und er klopft auch an unsere Tür in den Elenden und Armseligen unserer Tage.

Die zweite Tür ist die Himmelstür.

Über die erzählt man sich ja viele Witze. Vielleicht haben sich die Hirten von Bethlehem über diese Himmelstür auch so ihre Witze erzählt. Aber in manchem Witz west eine verborgene Sehnsucht danach, dass sich diese geheimnisvolle Tür einmal wirklich öffnet und wir dann  weiter und tiefer sehen und nicht immer nur den bescheidenen grauen Alltag vor Augen haben. Die Hirten sind nachts draußen auf den Fluren und hüten ihre Schafe. Aber auch am Tag sehen sie in der Regel schwarz. Vorbei sind die Glanzzeiten des Hirtenberufs, als noch König David einer von ihnen war. Zur Zeit Jesu galten die Hirten als Kriminelle. Sie waren verachtet, gemieden wie die Pest. Unmöglich, dass sich einer von ihnen mal in den Gottesdienst traute. Sie waren, wo sie hingehörten: draußen. Sie gehörten nicht dazu, und schon gar nicht zu Gott. Und nun öffnet sich in jener Nacht der Himmel, die Tür geht auf, ein Engel erscheint. Ein Engel wie aus dem Bilderbuch. Ein Bote durch und durch. Was er zu sagen hat, ist Freudenbotschaft: "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Messias, der Herr, in der Stadt Davids." Die Worte sind uns vertraut. Wie oft haben wir sie gehört und gesungen. Vielleicht hören wir das Unerhörte schon gar nicht mehr. Das Unerhörte liegt nicht nur darin, dass dieser Knirps im Futtertrog der Heiland, der erhoffte Retter, sein soll. Das Unerhörte liegt gerade auch darin, dass es diesen zwielichtigen Gesellen zugesagt wird: "Euch ist heute der Heiland geboren." Ihnen geht die Tür auf. Ihnen wird die offene Tür zugesagt. Die draußen stehen, die sich vorkommen wie der letzte Dreck, der Abschaum der Gesellschaft zurecht oder zu unrecht, die stehen plötzlich mitten drin, im Licht des offenen Himmels. "Euch ist heute der Heiland geboren!" Der ist geboren, der euch heilen kann: der frei macht von Sünde und Schuld, von belastender verschwiegener Vergangenheit. Der ist geboren, der euch hereinholt in die versöhnte Gemeinschaft mit Gott. Der ist geboren, der euch die Würde, Gottes Söhne und Töchter zu sein,  zurück gibt. Und eben darin hat Gott seine Ehre, dass die Kleingemachten und die Geschundenen, die böse Gewordenen und die Unmenschlichen nicht länger im Dunkel bleiben, sondern ins Licht geraten und eben dort wird der Friede einkehren, wo Menschen sich berühren lassen von Gottes verwandelndem Wohlgefallen. Immer ist das etwas Großes und Geheimnisvolles, wenn die Himmelstür aufgeht und ein Menschenleben, wie verkehrt und verkorkst auch immer es sein mag, ins Licht dieser heilenden Liebe Gottes gerät. Vor Jahren hat sich einmal diese Begebenheit in Bethel zugetragen. Als einer der geistig Behinderten eine Kerze anzünden darf, bekommt er vor Aufregung und Spannung einen furchtbaren Krampfanfall. Diese Situation erträgt der beste Freund des Jungen nicht und beginnt laut zu weinen: "Es hat alles einen Knacks!" ruft er voller Verzweiflung. "Es hat alles einen Knacks!" Pastor Bodelschwingh, der Leiter des Hauses, nimmt die verzweifelte Klage auf und fragt die um den Weihnachtsbaum versammelten Kinder: "Was ist das Große an Weihnachten?" Nach einigen Augenblicken antwortet ein Mädchen: "Weihnachten ist so groß, weil Gott da seinen Sohn geschickt hat, unseren Heiland." Dann fragt der Pastor: "Und warum hat er das getan?" Die Frage scheint das Mädchen zu überfordern. Doch plötzlich klettert es auf einen Stuhl und von da auf den Tisch und ruft ganz laut und jubelnd: "Darum, weil alles einen Knacks hat!" Was für eine scharfsinnige kindliche Analyse: "Alles hat einen Knacks!" Und wie oft nicht nur einen Knacks, sondern tiefe Risse und Sprünge in der Seele. Und nun geht die Tür auf und das Licht dieser Freudenbotschaft umleuchtet alle, die einen Knacks haben und Risse und Brüche: "Euch ist heute der Heiland geboren!" Das ist das Wichtigste an Weihnachten und wer es sich noch nie hat sagen lassen, der darf es sich heute sagen lassen: "Dir ist heute der Heiland geboren!" Und es ist Jesus! Er ist der Christus und Herr, nicht der Kaiser in Rom, der sich als Heiland und Friedensbringer göttlich verehren lässt. Kein Mensch und kein Ding dieser Welt kann dir Heiland sein. Nur Jesus Christus allein.

Jetzt muss noch von der Herzenstür die Rede sein.

Wenn die sich öffnet, dann zeigt sich das auch daran, dass Menschen in Bewegung kommen. Die Hirten kommen in Bewegung. Sie hätten ja am nächtlichen Feuer sitzen bleiben können. Sie hätten grübeln können darüber, ob die Engelerscheinung ein Traum war oder ein Hirngespinst oder ihre innerste Sehnsucht, die sie einfach mal an den offenen Himmel projiziert haben. Aber sie bleiben nicht hocken. Sie machen sich auf den Weg. Sie haben es eilig. Sie wollen sehen und begreifen, ob das alles wahr ist. Da ist etwas in ihnen aufgegangen: eine Tür in ihrem Innersten. Jetzt wollen sie dran bleiben. Jetzt wollen sie im Licht dieser Wahrheit bleiben, die sie mitten in der Nacht überfallen hat. Und sie werden fündig. Sie finden das Kind, das in Windeln gewickelte Kind und sie lassen sich nicht davon abschrecken, in diesem Kind den Heiland zu glauben. (Immer haben wir ja auch so unsere Vorstellungen im Kopf, wie Gott zu sein und zu handeln hat.) Sie nehmen den Engel beim Wort und werden so fündig und können dann den Mund nicht halten. Sie müssen weitererzählen, was sie gefunden haben. Wer den Heiland gefunden, kann den Mund nicht halten.

Und da ist Maria, die Mutter. Von ihr heißt es: "Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen."  Die Hirten sind das Bild der äußeren Bewegtheit. Maria ist das Urbild innerer Bewegtheit. Auch ihr Herz ist weit aufgetan. Nichts von alledem, was da geschieht und gesprochen wird in der armseligen Hütte, prallt an ihr ab. Sie nimmt alles auf wie ein trockener Schwamm und bewegt es in ihrem Herzen. Das griechische Wort, das Luther mit bewegen übersetzt, heißt wörtlich: etwas zusammenfügen zu einer lebendigen Einheit. Luther hat in einer Weihnachtspredigt gesagt, mit diesem Wort über die Maria sei eigentlich das gemeint, was wir "Meditation" nennen, und er hat diese Meditation in drastischer Weise verglichen mit dem Wiederkäuen eines Tieres, durch das die Nahrung erst gänzlich ausgenutzt wird. Vielleicht essen wir zu viel in diesen Weihnachtstagen und kauen zu wenig das Wort Gottes.  Immer ist da eine Tür im Herzen aufgegangen, wenn wir das Wort des Engels: "Euch ist heute der Heiland geboren!" nicht nur als weihnachtliche Information zur Kenntnis nehmen, sondern wirklich kauen und darin unser Leben, unser wirkliches Leben und unseren Glauben, unser Offensein für Gott, zusammenbringen.

Das wünsche ich uns allen, dass sich  Türen öffnen: die Tür der Nächstenliebe, die den Suchenden und Frierenden und Leidgeprüften nicht draußen stehen lässt, sondern in ihm Christus aufnimmt; die Tür des Himmels, so dass Licht fällt auf dein Leben, wie immer es auch aussehen mag; und die Tür des Herzen, so dass wir hingehen zu Christus und sein Wort zugleich in uns bewegen und nicht mehr loslassen.

Dann wird Weihnachten sein für euch und für andere. Gott gebe ein frohes Weihnachten!