14. Sonntag nach Trinitatis / 28. August 2005
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Menschen, die ihren Mund nicht halten können, gehen bisweilen ganz schön auf die Nerven. Vielleicht haben wir ihnen etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, aber das Anvertraute macht ganz schnell die Runde. Das ist ärgerlich. Oder wir sitzen in einer kleinen Gesellschaft zusammen und einer oder eine muss immer das erste und das letzte Wort haben. Auch das ist ärgerlich. Menschen, die ihre Klappe nicht halten können, belasten damit  Beziehungen, auch freundschaftliche Beziehungen. Im Evangelium heute hören wir von einem Menschen, der seinen Mund nicht halten konnte. Im Markusevangelium lesen wir im ersten Kapitel:

 

Es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein! Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst, sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, so dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.
Markus 1, Verse 40 - 45

 

Er kann den Mund nicht halten. Ausdrücklich hat Jesus diesem Kranken eingeschärft, er solle niemandem von seiner Heilung erzählen, aber stattdessen posaunt er die Geschichte in der ganzen Gegend herum. Er kann den Mund nicht halten. Von Anfang an nicht.

Dieser Aussätzige ist ja ein armer Tropf. Nicht genug, dass ihn eine Hautkrankheit plagt und sein Aussehen entstellt. Er gilt überdies als unrein. Er muss fernab der Dörfer leben, darf keinen Kontakt mit den Gesunden haben und ist ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Glaubenden. Am Gottesdienst darf er nicht teilnehmen. Was für ein Schicksal! Wie viele dieser armen Tröpfe sind darüber stumm geworden, haben sich nicht nur äußerlich zurückgezogen, sondern auch innerlich. Was ist da noch zu sagen, wenn das Leben so hart mitspielt, wenn Gott so gnadenlos zuschlägt. Aber dieser eine kann den Mund nicht halten. Er ist noch nicht ganz verstummt. Er tut, was er als Aussätziger nicht darf: Er macht sich an Jesus heran. Er mutet sich ihm zu. Er spricht ihn an. Er bittet: "Willst du, so kannst du mich reinigen." Willst du, dann kannst du mich nicht nur heilen, sondern wieder hereinholen in die Gemeinschaft mit den Menschen und mit Gott. Dieser Aussätzige kann den Mund nicht halten. Das macht ihn sympathisch. Sein Verhalten macht uns Mut.

Krankheit und Leid können isolieren, einsam machen, sprachlos. Wenn Schweres uns widerfährt, können wir darüber verstummen. Vielleicht lehnen wir uns zunächst dagegen auf in Worten und Gedanken, aber dann werden wir müde. Krankheit kann zermürben. Und der Gedanke, dass Gott uns straft oder irgendwie gegen uns ist, mag bedrücken und verwirren. Wie einsam und stumm kann ein Mensch werden in seiner Krankheit, in seinem Leid, obwohl Menschen um ihn sind, ihn betreuen und versorgen. Er fühlt sich abgeschnitten, abgehängt, stumm gemacht.

Der Aussätzige macht uns Mut. Wir brauchen nicht ganz zu verstummen. Wir müssen den Mund nicht halten. Wir dürfen Gott angehen. Wir dürfen Jesus bitten und bedrängen. Er wendet sich nicht ab. Er hat keine Berührungsängste. Er hält uns aus. Ein Gebet kann manchmal sein wie ein Schrei aus tiefer Einsamkeit und Verzweiflung. Aber im Gebet bleiben wir nicht stumm, nicht allein, nicht an uns selbst verloren. Wir suchen Gemeinschaft, Beziehung, Gott, das größere Leben.

Der Aussätzige kann den Mund nicht halten, aber er nimmt ihn nicht zu voll. "Willst du, so kannst du!" Er zwingt Jesus nicht, aber er traut ihm zu, dass er helfen kann.  Im Gebet haben wir Gott nicht in der Hand. Das Gebet ist keine Technik, um Gott zu beherrschen und für unsere Ziele und Wünsche einzuspannen, aber wir dürfen ihm alles zutrauen, auch dies, dass er uns noch einmal ins Leben holt und vor allem in die Gemeinschaft mit ihm.

Manchmal geschieht dies Wunder. Uns werden - wider alles Erwarten - auf dieser Erde und in der Gemeinschaft mit lieben Menschen noch ein paar Jahre geschenkt. So hat es auch der Aussätzige damals erlebt. Nicht immer geht in Erfüllung, was wir uns erhoffen und erbitten. Vielleicht schärft Jesus dem Geheilten auch deswegen ein, ja nicht von seiner Heilung herum zu erzählen. Das könnte falsche Hoffnungen wecken, als sei Jesus der Wundertäter, der gekommen ist, alle unsre (verständlichen und auch törichten ) Wünsche zu erfüllen. Das Wunder aller Wunder besteht nicht darin, dass wir Heilung erfahren und vielleicht noch ein paar zusätzliche Jährchen auf dieser Erde verbringen können. Das Wunder aller Wunder wird sein, dass er, Jesus, in den Tod geht für uns und dass Gott ihn auferweckt zu neuem unvergänglichen Leben. Das Wunder aller Wunder wird sein, dass ein Menschen im Glauben an Jesus Christus, den auferstandenen Herrn Heilung erfährt bis ins Innerste hinein und sich aufgenommen weiß in die Gemeinschaft mit Gott, die der Tod nicht zu zerstören vermag. Darum soll wohl der Aussätzige schweigen, bis Ostern ist, bis alle wissen, was Gott im Letzten will.

Aber der Geheilte kann den Mund nicht halten. Er muss weiter erzählen von dem, was ihm widerfahren ist. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Offensichtlich erzählt er nicht nur von sich, er berichtet von seiner Begegnung mit Jesus. Er weiß, wem er seine Heilung verdankt. Er weiß, wem er seine neu gewonnene Lebensfreude verdankt. Er weiß, wer ihn hereingeholt ins Leben, in die Gemeinschaft, in die Beziehung zu Gott. Er redet wohl so begeisternd von diesem Jesus, dass der sich genötigt sieht, öffentliche Auftritte zu meiden.

Der Geheilte kann den Mund nicht halten. Was er erfahren hat, sollen auch andere wissen. Und da ist etwas in ihm, das muss heraus, das muss sich im Erzählen Luft verschaffen. Ist es das Gefühl der Dankbarkeit, das ihn so redselig macht? Dann wäre er uns darin ein Vorbild. Danken heißt erzählen von dem Wunderbaren, das geschehen ist. In den Psalmen erzählt Israel von seinen wunderbaren Erfahrungen mit Gott. Indem der geheilte Aussätzige erzählt, dankt er.

Wenn wir danken, erzählen wir Gott von dem, was schön ist und schön war, was uns beglückt und trägt. Gut, wenn wir am Abend nicht einschlafen, ohne zu erzählen, auch von dem kleinen und unscheinbaren Glück. So hilft uns das Danken, intensiver zu leben und zu erleben. Und zum Danken gehört auch das Weitererzählen. Von jenem unbekannten Aussätzigen lernen wir es. Es ist ja seltsam: wenn es ums öffentliche Danken geht, sind wir eher schweigsam. Da halten wir lieber den Mund. Warum nur? Vielleicht gibt es eine gesunde Scheu, Gott öffentlich im Mund zu führen. Wir müssen mit Gott nicht angeben. Aber vom Aussätzigen lernen wir: es gibt Zeiten, da will unser Dank laut werden unter den Leuten.

Ich denke an eine Frau. Ihr Mann war überraschend schnell gestorben. Nun stand sie allein da mit ihrem noch heranwachsenden Kind. Die Wochen des Sterben waren hart und hatten viel Kraft gekostet. Aber in alledem wusste sie sich wunderbar geführt und auch in kleinen, alltäglichen Begebenheiten hatte sie etwas von der Fürsorge ihres Gottes in allem Leid gespürt und entdeckt. Und sie hat davon erzählt. Nicht aufdringlich, sondern  ganz ehrlich und staunend. Mich hat ihr dankbares Erzählen berührt. Es hat mich ermutigt, auch im Schweren mit Gottes Hilfe im ganz Alltäglichen zu rechnen.

Das Erzählen des Aussätzigen hatte auch eine Wirkung. Markus notiert: "Sie kamen zu Jesus von allen Enden."  Im Danken feiern wir uns nicht selber, sondern weisen hin auf Gott, der in Jesus als Helfer sichtbar geworden ist. Wie gut, wenn auch durch unser sehr persönliches Danken Menschen aufmerksam werden auf Gott und hingehen zu Jesus, dem Gott, der sich nicht abwendet, der keine Berührungsängste hat, dem wir uns zumuten dürfen wie wir sind.

Wir müssen unsren Mund nicht halten! Gott sei Dank!