Altjahrsabend / 31. Dezember 2004
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Wieder geht ein Jahr zu Ende: 365 Tage, 8.760 Stunden, 525.600 Minuten, 31.536.000 Sekunden. Das ist viel Zeit!

Rose Ausländer dichtet:

Die Zeit
ist mein Freund
mein Feind
Ich esse ihre Süßfrüchte
trinke ihren Wermut
Jede Stunde
ist meine Stunde
Staunen

Zeit wird also nicht nur gezählt in Tagen, Stunden und Sekunden. Zeit wird erlebt. Habt ihr das vergangene Jahr als Freund erlebt oder eher feindlich? Was hat süß geschmeckt, und was ist euch bitter aufgestoßen? Wir brauchen Zeit, um das mit dem Herzen zu ermessen. Ein ganzes Jahr, Stunde um Stunde, von mir ganz persönlich erlebt, erfahren, erlitten. Es ist zum Staunen, manchmal zum Heulen. Jede Stunde ist meine Stunde, bekennt Rose Ausländer.

Ein Beter der Bibel bekennt noch mehr: Meine Zeit steht in deinen Händen. (Psalm 31,Vers 16)

So werden wir erinnert: Jede Stunde ist deine Stunde, Gott. Auch darüber dürfen wir staunen. Darüber besonders, weil uns dieses Staunen im Gedränge der alltäglichen Zeit oft fehlt. Da geht es eher zu wie in diesem fast biblischen Gleichnis:

Ein Mann hatte einen großen Terminkalender und sagte zu sich selbst: "Alle Termine sind eingeschrieben, aber noch sind die Tagung X und die Konferenz Y sowie die Sitzung der Unterausschüsse und die Treffen unseres Teams nicht eingeplant Wo soll ich sie alle unterbringen?" Und er kaufte sich einen größeren Terminkalender mit Einteilungsmöglichkeiten der Nachtstunden, machte aus Abendessen Arbeitsessen, aus Wochenenden Klausurtage, disponierte noch einmal, trug alles sorgfältig ein und sagte zu sich selbst: "Nun sei ruhig, liebe Seele, du hast alles gut geplant, versäume nur nichts!"

Und je weniger er versäumte, umso mehr wuchs sein Informationsvorsprung. Er konnte überall mitreden. Er stieg im Ansehen und wurde in den Ausschuss Q und in den Vorstand K gewählt, zweiter und erster Vorsitzender, Ehrenmitglied. Und eines Tages war es so weit: Gott sagte: "Du Narr, diese Nacht stehst du auf meinem Terminkalender!" (Gottfried Hänisch)

Was für eine provozierende Geschichte! Ist sie nicht wahr? Stunde um Stunde wird geplant, terminiert, getimet. Zeit ist Geld. Zeit ist Wissen. Zeit ist Macht. Zeit ist Einfluss. Und wir machen die Zeitrechnung ohne den Wirt.

Die Bibel kommt uns da in die Quere. Das Bekenntnis des Beters stellt unsere Zeitrechnung in Frage: "Meine Zeit steht in deinen Händen." Wir dürfen es lernen, bevor wir auf Gottes Terminkalender stehen: Zeit ist ein Geschenk, Stunde um Stunde. Mir anvertraut von Gott dem Schöpfer, dem Ursprung aller Zeit.
Ich habe mir angewöhnt, jeden Tag - wenn irgend möglich - zusammen mit meiner Frau für Gott einen Termin freizuhalten: Zeit zum Stillesein. Zeit zum Staunen. Zeit zum Gebet. Der Morgen hat sich bewährt. So bekommen alle Stunden des Tages eine innere Ausrichtung. Und die Zeit mit Gott trägt, sie trägt durch den Tag, auch in schwierigen Situationen. "Meine Zeit steht in deinen Händen." Luther hat einmal nach überstandener Krankheit folgende Erfahrung mit diesem Wort notiert: "Diese Zeile habe ich jetzt in dieser Krankheit gelernt und will sie korrigieren, denn ich bezog sie früher nur auf die Todesstunde. Sie soll aber heißen: In deinen Händen sind meine Zeiten, mein ganzes Leben, alle Tage, Stunden und Augenblicke."

Meine Zeit steht in deinen Händen, Gott, du Schöpfer meines Lebens. Wer so beten lernt, staunt über jede Stunde, die er leben darf und weiß sich geborgen in starken Händen.

Wenn wir den ganzen Psalm 31 lesen, in dem dieses Bekenntnis steht: "Meine Zeit steht in deinen Händen!", dann sind wir überrascht: Der Mensch, der so betet, befindet sich nicht auf einer Insel der Seligen, dem Alltag mit seinen Terminzwängen und Widrigkeiten entrückt. Vielmehr weiß sich der Beter von allen Seiten bedrängt. Feinde verfolgen ihn. Sie setzen ihm übel zu. Seine Lebenskraft ist dahin geschwunden. Er kann nicht mehr. Und bedrängend erlebt er auch die innere Not: Er hat Fehler gemacht. Er hat gegen Gottes Gebot gehandelt. Er weiß es.

Das alles spricht er schonungslos offen aus. Aber in dieser extremen Situation äußerer und innerer Bedrängnis geht er nicht unter. Er vertraut sich Gott an: "Meine Zeit, mein Leben mit allem, was dazu gehört, steht in deinen Händen."

Feindlich kann uns das Leben begegnen. Menschen können uns das Leben zur Hölle machen und wir anderen auch. Das Wasser kann uns bis zum Hals stehen. Und mitten im Urlaub türmen sich Flutwellen  meterhoch und bringen Tod und Verderben. So urplötzlich bricht die letzte Minute an. Manchmal kommt sie schleichend als Krebsgeschwür. Wir sind nicht der Beter von Psalm 31 und sind es doch auch. Mitten im Alltag bedrängen uns Ängste, Todesängste. Unsere Zeit ist begrenzt. Ob wir nächstes Jahr noch einmal die Kalender wechseln, wissen wir nicht. Aber eines sollen wir wissen: "Meine Zeit steht in deinen Händen."

Wir kommen von Weihnachten her. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn. Gott ist im Kind zur Welt gekommen, eingetreten in Raum und Zeit. Wir gehen auf  Karfreitag zu. Noch weiter wird Gott herunterkommen im Mann am Kreuz. Aber die Hände wird er ausstrecken wie zur Vergebung über denen, die nicht wissen, was sie tun. Die Hände wird er ausbreiten wie zum Segen für alle, die nicht mehr wissen, wohin mit ihrer Angst. Und noch einmal wird er die Hand heben zum österlichen Gruß für alle, die glauben und zweifeln. "Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen, barmherzig ausgespannt." In Jesus Christus hat er die Hände weit ausgespannt, dass keiner durchfällt, dass keiner aus der Zeit ins bodenlose gottlose Nichts fällt. 

Meine Zeit steht in deinen Händen, Christus.

Wie können wir so voll Vertrauen beten lernen? Es ist uns doch nicht in die Wiege gelegt. Glauben ist doch kein Talent, das man hat oder auch nicht hat. Der Beter von Psalm 31 war sicher auch kein religiöses Genie. Aber er war offen für Gottes Anrede, für sein Wort und seine Weisung. Er ging nicht allein seinen Weg. Er suchte die Gemeinde. Er suchte Brüder und Schwestern, die sich selbst nicht genug sind, die nicht dicht sind und verschlossen in ihren Zeit- und Erfahrungsräumen. Der Beter suchte den Tempel, den Ort, an dem Gott gelobt wird, an dem wir alle Allmachtsphantasien ablegen und werden, was wir sind: Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen, deren Tage auf dieser Erde gezählt sind, Menschen, die auf Gottes Erbarmen angewiesen sind wie auf das täglich Brot.

So lernte er beten, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr, allem Augenschein und allen Widerständen zum Trotz: Meine Zeit steht in deinen Händen. So machte er Erfahrungen mit dem Geist Gottes, der in uns solches Zutrauen weckt. Darum sind die Termine mit Gott so wichtig, denn es sind die ausgesparten Zeiten, in denen Gottes Geist sein Wesen treibt. Wir lesen und bedenken ein Wort der Bibel. Wir sprechen mit Gott über unser Leben, über die kleine und große Welt. Wir sind mit anderen zusammen und feiern seine heilende und suchende Liebe mit Brot und Wein. Verlorene Zeiten, sagt der Spötter. Erfüllte Zeiten, staunt der Glaube. Zeiten, in denen Gottes Geist an uns arbeitet.

Meine Zeit steht in deinen Händen, Gott, heiliger Geist.

Es ist Zeit, dass der dreieinige Gott wieder ins Spiel kommt. Nur so gewinnen wir Profil und christliche Identität in der Begegnung mit anderen Religionen. Angst geht um in Europa, Angst vor Islamismus, der politisierten Ausprägung des Islam, aber auch Angst vor einer lebendigen vitalen Religion, wie sie der Islam darstellt. Die Angst sitzt tief. Sie offenbart, dass wir in Europa zutiefst verunsichert sind, was unsere christliche Identität angeht. Was die Völker Europas verbindet, ist eine wuchernde Säkularisierung aller Lebensbereiche. Aber eben so sind wir gerade nicht fähig zum Dialog mit anderen Religionen. Es wird Zeit, dass der dreieinige Gott wieder ins Spiel kommt. Das kann nicht von oben verordnet werden, aber jeder und jede wird auch im neuen Jahr sehr persönlich entscheiden müssen, wie viel Zeit und Raum Gott im Leben haben darf.

Und es wird uns nichts Besseres passieren können als dieses, dass wir im Glauben hineinwachsen in dieses Vertrauen: "Meine Zeit steht in deinen Händen!"