14. November 2004 / Volkstrauertag
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Durch den Messias Jesus hat Gott Versöhnung zwischen sich und der Welt gestiftet. Er hat den Menschen in der Welt ihre Schuld vergeben und mich beauftragt, die Versöhnungsbotschaft auszurichten. So stehe ich als Gesandter im Dienst Jesu, des Messias. Es ist, wie wenn Gott durch mich die Menschen dazu auffordert: „Lasst euch mit mir versöhnen.“ Darum bitte ich euch anstelle Jesu Christi. Jesus war ohne Schuld, doch weil Gott alle unsere Schuld auf ihm abgeladen hat, wurden wir durch Jesus Christus von der Schuld freigesprochen und stehen so gerecht da, wie Gott es will.
2. Korinther 5, Verse 19 - 21 (nach Klaus Berger)

 

Liebe Gemeinde,

Eberhard Rieber, ein Holzbildhauermeister aus Jestetten, an der Schweizer Grenze, hat dieses Kreuz aus alten Fassdauben geschnitzt. Es wird künftig im Oberlinhaus hängen.

  

 

Auch dieses Kreuz erinnert an den Tod. Wir leben auf Abruf. Unsere Tage sind gezählt. Jetzt im winterlichen Herbst erleben wir die Vergänglichkeit viel intensiver als im Frühling oder im Sommer. Manche fürchten sich vor der dunklen Jahreszeit. Sie mache depressiv, sagen sie. Das mag sein. Aber es ist doch auch wichtig, dass wir unsere Sterblichkeit anschauen und aushalten. So wird jeder Tag und jede Stunde umso kostbarer und einmaliger. Wer um den Tod weiß, weiß um so mehr um das Geschenk des Lebens.

Dieses Kreuz erinnert aber nicht nur an unsere Vergänglichkeit. Es ist aufgerissen wie eine Wunde. Es erinnert an das Leid, das Menschen tragen müssen. Mehr noch: es erinnert an das Leid, das Menschen einander zufügen. An diesem Tag denken wir nicht nur an die Opfer der beiden Weltkriege, sondern auch an die unzählbaren Opfer von Terror, Gewalt, fanatischem Hass und blinder Vergeltungssucht. Auch heute werden Menschen sterben in den Straßen von Bagdad, in den Flüchtlingslagern von Dafur. Irgendwo auf der Welt werden Menschen zu Tode gequält oder erniedrigt. Kinder verhungern, weil ihnen das Nötigste fehlt und eine gewissenlose Oberschicht nur darauf bedacht ist, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Frauen aus den östlichen Ländern werden  in westliche Bordelle geschleust und zur Prostitution gezwungen. Aufgerissen ist dieses Kreuz und weist hin auf die zerrissene Menschheit, auf die Wunden, die Menschen mit ihren Interessen und Ideologien einander zufügen. So viel Leid trifft Menschen, dunkles und unerklärliches Leid. Und doch ist das meiste Leid hausgemacht, erwachsen aus Gleichgültigkeit oder Raffgier oder tödlicher Feindschaft. Dies Kreuz zerreißt den Schleier, der uns am klaren Blick hindert. Wir sind nicht einfach ok. Da lauern in jedem Menschen, sozusagen hinter der Maske alltäglicher Bravheit, dunkle Kräfte. Und wenn sie entfesselt werden, stürzen die heilen Fassaden zusammen. Dann fließt Blut. Vor 10 Jahren fand in Ruanda und unvorstellbares Gemetzel statt.

800 000 Tutsi wurden von den Hutus ermordet. Aus ganz normalen Bauern wurden plötzlich Mörderbanden, die im Blutrausch tödliche Orgien feierten.

Der Mensch: des Menschen Feind. Der Mensch: ein Brudermörder. Schon auf den ersten Seiten der Bibel wird von Kain und Abel erzählt und an diese dunkle Seite erinnert, die in jedem und in jeder steckt.

Seht das Kreuz, aufgerissen wie eine Wunde und in der Wunde wird Jesus sichtbar. Jesus, ein Opfer. Religiöse Intrige und Ablehnung und römische Staatsräson haben ihn zur Strecke gebracht. Jesus, ein Bruder aller Opfer.

Im Kreuz steckt Christus verborgen, und in ihm verborgen der unsichtbare Gott. So sieht es Paulus. So bezeugt es das Neue Testament. In Christus ist Gott im Spiel. Und so sehen wir am Kreuz auch dieses dunkle Geheimnis: Übel wird Gott mitgespielt. Mund tot gemacht. Zum Schweigen gebracht. Entsorgt. Das Kreuz ist kein harmloses Zeichen, ein Schmuckstück am Hals. Es ist unheimlich, weil es eine unheimliche Situation aufdeckt: wir sind Gott feind. Eigentlich wollen wir nicht, dass er das Sagen hat in unserem Leben. Natürlich: nach außen hin  haben wir nichts gegen ihn. Es mag ihn geben irgendwo und irgendwie. Wir haben ein Bild von ihm, manchmal ein Zerrbild. Wir haben ihn so, wie wir ihn gern hätten. Wir haben ihn gern so, dass er unsere Kreise nicht stört, dass er nicht hineinredet in unseren Alltag, in unsere Geschäfte, in unsre Beziehungen. Wir halten ihn auf Distanz. Nur nicht zu viel Bibel. Nur nicht zuviel Beten. Nur nicht wirklich sich auf ihn einlassen mit Haut und Haaren. Ich rede nicht von oben herab, von der Kanzel herunter. Ich stehe mit Euch auf dem selben Boden. Und auf diesem Boden halten wir IHN uns vom Leib und von der Seele. Ist es Gleichgültigkeit? Ist es heimliche Feindschaft? Ist es unsere sehr bürgerliche, nicht unchristliche, aber doch unheimliche Art, gegen ihn zu sein, ihn draußen zu lassen?

Seht den Jesus hier am Kreuz. Gott am Kreuz. Erledigt. Für viele Zeitgenossen scheint Gott erledigt. Für andere nicht.

Ein Präsident betet und zieht in den Krieg gegen die Bösen in Gottes Namen. Und die anderen beten auch und sprengen sich in die Luft und reißen viele mit in den Tod im Namen Gottes. Gott wird gebraucht. Gott wird missbraucht. Unter seinem Namen tarnen wir unsere Wünsche, unsere Interessen. Auch so spielen Menschen Gott übel mit. Auch so wird er erledigt, kleingemacht und zurechtgestückelt auf die Währung unsrer Pläne und Gedanken.

Seht das Kreuz. Seht darin den Jesus, den Messias. Seht darin Gott wie er leidet und stirbt an unsrer Schuld, an dem was wir ihm und einander schuldig bleiben an Achtung und Liebe und Gehorsam.

Das Kreuz ist ein unheimliches Zeichen. Es steht für unsere Feindschaft Gott gegenüber. Ist nicht so vieles wund und zerrissen unter den Menschen, weil wir nicht mehr wissen, wohin wir gehören? Und wenn wir nicht mehr wissen, wohin wir gehören, dann wissen wir auch nicht mehr, was sich gehört, was sich in Gottes Namen gehört.

Nun liegt im Zeichen des Kreuzes noch ein anderes Geheimnis, Gott sei Dank! Seht dieses Kreuz. Es ist nicht nur zerrissen. Vielleicht bricht es auf, gibt ein Geheimnis preis: Christus, in dem Gott gekommen ist, um Versöhnung zu stiften zwischen ihm und der Welt. Jesus war ohne Schuld, sagt Paulus. Er lebte aus Gott und in Gott in ungetrübter Gemeinschaft. Doch alle Schuld der Menschen ist auf ihm abgeladen worden, so sind wir freigesprochen von unsrer Schuld durch ihn. Im Vertrauen auf ihn stehen wir vor Gott so gerecht da, wie er es will. So hat Gott aufgeräumt und weggeräumt, was zwischen ihm und uns Menschen steht. Er hat den ersten Schritt gemacht. Er ist auf uns Menschen, auf seine Feinde, zugegangen. Wir sagen und hören das, als wäre es die selbstverständlichste Selbstverständlichkeit von der Welt und ist doch ein unglaubliches Geheimnis. Gott geht in Jesus auf die Welt zu. Wer sich einmal mit einem anderen zerstritten hatte, ja in Feindschaft lebte und sich im Recht wusste, der weiß ja, wie unmöglich das ist, den ersten Schritt zu tun. Und nun macht der heilige Gott den ersten Schritt. Er muss sich nicht vor uns entschuldigen, aber er entschuldet uns. Er verwandelt das Kreuz in das Zeichen seiner Versöhnung.

"Es steckt mehr dahinter!" Das war der Leitgedanke des Künstlers, als er dieses Kreuz schnitzte. Es steckt wirklich mehr dahinter. Gott selbst in seiner unbeirrbaren Liebe und Suche nach uns Menschen. Und nun schickt er seine Boten aus. Paulus ist auch so einer. Durch ihn bittet er: "Lasst euch versöhnen mit mir!" Das ist auch meine Aufgabe: an Christi Stelle zu bitten: "Lasst euch versöhnen mit Gott!" Paulus kann nur bitten. Ich kann nur bitten. Der große heilige Gott lässt durch Menschen bitten: "Lasst euch versöhnen mit mir!". Er hat den ersten Schritt gemacht. Dafür steht das Kreuz.

Wie können wir antworten? Gottes Versöhnung an uns geschehen lassen? Wie kann diese Versöhnung Wirklichkeit werden, so dass das alles nicht nur fromme Gedanken bleiben, hundert Mal gehört, auswendig gelernte Sprüche, sondern mein Herz erfüllt, das, was in mir unheil und unversöhnt ist, ganz durchdrungen wird von seinem Frieden?

In Ruanda geschieht Seltsames. Opfer und Täter versöhnen sich.

Das ist nicht leicht, das ist schwer. Die Opfer erzählen in Gegenwart der Täter von ihrem Leid, von ihren Schmerzen. Das öffnet manchmal dem Täter den Mund. Er kann sagen von dem Bösen, das er getan. Er bekennt. Er spricht Schuld aus. Und dann mag das Wunder geschehen, dass vergeben wird, dass eine zerstörte Beziehung langsam geheilt wird in der Kraft des Glaubens.

Vielleicht erleben wir so auch Gottes Versöhnung am eigenen Leib und in der eigenen Seele. Wir sehen das Kreuz und erschrecken über das Böse, das auch in unsren Worten und Gedanken und Taten steckt. Unser Mund öffnet sich. Wir können es Gott sagen im Gebet, vielleicht auch in der Beichte. Und dann nehmen wir ihn beim Wort. Lassen für uns gelten, was gesagt ist: Um Christi willen sei frei und los von deinem Bösen. Fang neu an mit Gott und mit dir selbst und in deinen Beziehungen.

Dann mag Wunderbares geschehen auch durch uns. So wie es in Ruanda geschieht durch Christen. Versöhnung zieht Kreise und lässt Menschen neu miteinander anfangen. In der Familie. In der Nachbarschaft.

Seht das Kreuz. Was steckt nicht alles darin und dahinter. Christus selbst, der bittende Gott: "Lasst euch versöhnen mit mir!"

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.