Reformationstag / 31. Oktober 1999
Bischof Dr. Sigisbert Kraft

  

Aber jetzt ist eingetreten, was das Gesetz selbst und die Propheten im voraus angekündigt hatten: Gott hat so gehandelt, wie es seinem Wesen entspricht. Er hat selbst dafür gesorgt, daß die Menschen vor ihm bestehen können. Er hat das Gesetz beiseite geschoben und will die Menschen annehmen, wenn sie einzig und allein auf das vertrauen, was er durch Jesus Christus getan hat. Das gilt ohne Ausnahme für alle, die dieses Vertrauen haben. Vor Gott gibt es keinen Unterschied. Alle sind schuldig geworden und haben die Herrlichkeit verscherzt, die Gott ihnen geschenkt hatte. Aber Gott hat mit ihnen Erbarmen und nimmt sie wieder an. Das ist ein reines Geschenk. Durch Jesus Christus hat er uns aus der Gewalt der Sünde befreit.
Ihn hat Gott vor aller Welt als Versöhnungszeichen aufgerichtet. Sein Blut, das am Kreuz vergossen wurde, bringt Frieden mit Gott für alle, die dieses Angebot im Vertrauen annehmen. In seiner großen Güte vergibt Gott den Menschen alle Verfehlungen, die sie bisher begangen haben. So zeigt er, daß seine Treue umwandelbar ist.
Ja, in unserer gegenwärtigen Zeit wollte Gott zeigen, wie er zu seinen Zusagen steht. Er bleibt sich selbst treu, indem er alle als treu erkennt, die sich einzig und allein auf das verlassen, was er durch Jesus getan hat. Haben wir Juden also irgendeinen Grund, uns über die anderen Völker zu erheben? Gewiß nicht! Wodurch wird das ausgeschlossen? Etwa durch das Gesetz, sofern es ein Tun erfordert? Nein, vielmehr durch das Gesetz, sofern es zum Vertrauen auffordert. Für uns steht fest: Gott nimmt die Menschen an, obwohl sie die Forderungen des Gesetzes nicht erfüllt haben. Er nimmt jeden an, der sich auf das verläßt, was ER durch Jesus Christus getan hat.
Römer 3, Verse 21 - 28

 

Vertreter des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche unterzeichnen zu dieser Stunde in Augsburg eine "Gemeinsame offizielle Feststellung" in der grundsätzliche Übereinstimmungen beider Kirchen in der Rechtfertigungslehre bestätigt werden. Ausdrücklich heißt es in diesem Dokument, dass in Zukunft weitere Fragen einer Klärung bedürften, "um zu voller Kirchengemeinschaft, zu einer Einheit in Verschiedenheit zu gelangen, in der verbleibende Fragen miteinander "versöhnt" würden und keine trennende Kraft mehr hätten."

Zu den "verbleibenden Fragen" gehört wohl vor allem, warum auf diesen gemeinsamen Weg nicht auch andere, wenn nicht alle Kirchen der Ökumene eingeladen wurden und werden. Es sind ja nicht einmal alle evangelischen Kirchen mit einbezogen, auch die badische Landeskirche nicht.

Viele fragen vor allem: Worum geht es eigentlich bei der Rechtfertigungslehre, die in der Reformationszeit als "der erste und Hauptartikel" der christlichen Lehre verkündet wurde ? Woran denken wir, wenn wir "Rechtfertigung" hören ? Ein Oberbürgermeister hat vor einer Podiumsdiskussion über die Rechtfertigungslehre Theologen aus verschiedenen Ländern und Kirchen begrüßt und festgestellt, das Thema sei wohl auch für ihn interessant, denn er müsse sich in seinem Amt oft und vor anderen rechtfertigen. Fällt uns anderes ein ? Die neue Bischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche von Hannover, Margot Käßmann, sagt in einem Interview mit der "Welt": "Ich halte die Rechtfertigungslehre für eine fast revolutionäre Ansage an eine Gesellschaft, in der als gerechtfertigt nur noch derjenige erscheint, der etwas leisten kann, dadurch auch konsumieren kann, erfolgreich ist. Zu sagen, vor Gott ist das irrelevant, vor Gott bist du als erfolgreiche Unternehmerin genau so viel wert wie das behindert geborene Kind und der pflegebedürftige alte Mann, ... - das ist etwas ganz Großes. Wir müssen das nur übersetzen in eine Gesellschaft, deren religiöses Grundwissen dürftig, wenn nicht verkümmert ist."

Der Predigttext dieses Tages macht uns diese Übersetzung nicht leichter. Vor vier Jahrzehnten schrieb dazu Wilhelm Stählin, evangelisch-lutherischer Bischof, einer der Stifter der Evangelischen Michaelsbruderschaft: "Eine einwandfreie und nachdrückliche Wiederholung und Erklärung der Vokabeln kann die hoffnungslose Fremdheit nicht aufheben; denn gerade diese Vokabeln wirken zunächst als eine undurchsichtige Wand, die uns die wesentlichen Fragen und Antworten verbirgt, die auch unsere Fragen und Antworten wären. Vor allem gehören die entscheidenden Worte "Gerechtigkeit" und "rechtfertigen" der theologischen Geheimsprache an, die außerhalb eines begrenzten Kreises, der die Sprache gewohnheitsmäßig spricht, niemand versteht."

Versuchen wir einen Zugang, indem wir - wie auf einem gotischen Flügelaltar - biblische Bilder einander gegenüberstellen und betrachten.

"Am Anfang" steht der (erste) Schöpfungsbericht, genau besehen ein Hymnus mit dem Kehrvers "Und Gott sah, dass es gut war". Zu guter letzt heißt es, dass Gott alles ansah, was er geschaffen hatte, Himmel und Erde, Land und Meer, Tiere im Wasser, in der Luft, auf dem Erdboden - und die Menschen, Mann und Frau. "Und siehe: Es war sehr gut".

Bald danach finden wir das zweite Bild: Der Sündenfall. Die Menschen wollen selber sein wie Gott, selber wissen und entscheiden, was gut und böse ist. Dabei geraten sie mit Gott und untereinander in Konkurrenz und Konflikt. Es kommt zu Streit und Brudermord. Da ist dann nichts mehr gut.

Das sind nun keine Geschichten aus uralten Zeiten, vielmehr die Bilder der "Sünde der Welt" (Johannes 1, Vers 29), Bilder der Menschen, von denen es im heutigen Predigttext heißt: "Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollen" (Römer 3, Vers 23). Das heißt: Wir haben gesündigt. Wir sind schuldig geworden. Wir haben uns von Gott distanziert und uns selbst zum Maßstab unseres Tuns und Lassens gemacht. Gott kann jetzt nicht mehr sehen und sagen: Alles ist gut. Das aber wäre der Ruhm, den wir bei Gott haben sollten.

Das dritte Bild, wie auf den alten Altären im Mittelpunkt: Jesus, ans Kreuz geschlagen, "das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt" (Johannes 1, Vers 29). Er hängt inmitten zweier Raubmörder. Der eine lästert, verhöhnt und verspottet Jesus wie viele der Umstehenden. Der andere erkennt: "Wir empfangen, was unsere Taten verdienen. Dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein !" (Lukas 23, Verse 41-43). Für diesen Mann gab es keine Möglichkeit mehr für eine Kehrtwende, für eine Wiedergutmachung.

"Ohne Verdienst - gerecht allein aus Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Gerecht allein durch Glauben" heißt es im heutigen Predigttext (Römer 3, Verse 24 + 28).

Im Bild des Kreuzes erkennen wir: "Sind wir untreu, so bleibt er doch treu" (2. Timotheus 2, Vers 13).

Wenn von Gericht und Gerechtigkeit die Rede ist, müssen wir uns "davor bewahren, den juristischen Nebenklang des Wortes nicht zu sehr zu betonen" (W. Stählin). Gerecht, recht, richtig werden heißt: Gott macht von neuem alles wieder gut. Jesus hat das, was Gott tut, in Bildern aus dem Alltag erklärt. Er sprach etwa von einer Frau, die ein wenig Sauerteig unter drei Maß Mehl mengt. Ich denke an einen kleinen Buben, der mutwillig ein Spielzeug seiner Schwester zerbricht. "Lass es gut sein, ich richte es wieder. Du kannst das nicht" sagt der Großvater. Gott richtet wieder her, er richtet wieder auf. Allein aus Gnade. Damit dürfen wir freilich nicht spielen. Darauf dürfen wir nicht sündigen, denken und tun, was wir selbst für gut halten, nach dem Motto: Der Herrgott ist doch "nicht so". Wenn wir Gott als "lieben Gott" verharmlosen, der letzten Endes alles gelten lässt, wenn wir seine Gerechtigkeit und sein Gericht ausklammern, nehmen wir auch seine Barmherzigkeit nicht mehr ernst.

Glaube heißt "gewagtes Vertrauen" (Peter Beier), den Sprung wagen aus dem eigenen Gutdünken, den eigenen Entscheidungen und sich allein auf Gott, auf seine Weisungen einlassen. Das ist gemeint, wenn es heißt, dass das Gesetz durch den Glauben nicht aufgehoben, vielmehr aufgerichtet werde (Römer 3, Vers 31). Keine (Vor-)-Leistung. Aus Gnade, durch Glauben. Gegenseitige Annahme: Gott nimmt uns in Liebe an und wir nehmen sein Geschenk der Liebe an.

Gott sagt uns zu: Ich richte wieder her, was ihr zerstört habt, um Christi willen, des Menschen, der gehorsam geblieben ist, "gehorsam bis in den Tod, bis in den Tod am Kreuz" (Philipper 2, Vers 8).

Das ist die frohe Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade.

Peter Beier, der früh verstorbene Präses der rheinischen evangelischen Kirche, hat diese Botschaft vor acht Jahren so gedeutet:

"Gottes Gnade stellt keine Bedingung,
aber lockt zum Sprung,
in undefinierbares Gelände,
in gewagtes Vertrauen.
Da ist nichts zu sehen
und nichts zu beschwören
und nichts zu erklären.
Trifft nur ein Ruf das Gehör:
Nehmt, was ihr habt, in Gebrauch.
Ihr seid gerettet - aus Gnade.
Wer hört und glaubt,
gibt die Antwort leise:
Ich rechne nicht mehr mit mir.
Ich rechne nicht mit der Welt.
Ich mache die Rechnung nicht auf.
Ich rechne mit niemandem ab.
Ich reche ohne Berechnung
auf Gnade.
So und nicht anders
werden am Ende
die leeren Hände,
der stumme Mund,
der gelähmte Leib
bewegt zum Tun des Gerechten
aus Gnade durch Glauben."

Und nun nochmals einen Blick auf das Geschehen in Augsburg. Es wird von offenen Fragen begleitet. Sie werden gestellt, weil diese Übereinstimmung so wichtig ist, dass sie nicht durch verdrängte Probleme gefährdet werden darf, nicht also, um die Freude am Augsburger Ereignis zu vergällen und einen erreichten Konsens madig zu machen.

Der neugewählte leitende Bischof der VELKD, Hans Christian Knuth, hat vor wenigen Tagen angemahnt, der Papst knüpfe mit dem für das Jahr 2000 verkündeten Jubiläumsablass an dieselbe Praxis an, die einer der Auslöser der Reformation gewesen sei und die mit einer Einigung in der Rechtfertigungslehre nicht in Übereinstimmung gebracht werden könne.

Weiterhin: Wie vertragen sich mit dem "ersten und Hauptartikel" von der Rechtfertigung allein aus Gnade die Glaubenssätze, die in Rom 1870 den Sätzen des Credo gleich gestellt wurden, die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und des menschlichen Verhaltens, allein aus sich selbst, ohne den Konsens der Kirche, und seiner obersten Rechtsprechungsgewalt. Es heißt da unter anderem: "Die Hirten und die Gläubigen sind zu hierarchischer Unterordnung und wahrem Gehorsam (dem Papst) verpflichtet, nicht nur in Angelegenheiten, die den Glauben und den Sitten, sondern auch in solchen, die Disziplin und Leitung der auf dem ganzen Erdkreis verbreiteten Kirche betreffen". Wir erfahren in diesen Wochen die Wirkungsgeschichte dieser Dogmatisierung bedrückend. Mehrere deutsche römisch-katholische Bischöfe sprechen derzeit offen von ihrer Gewissensnot.

Und weiter: Wo erfahren wir das unverdiente Geschenk der Gnade, "zur Vergebung der Sünden" (Matthäus 26, Vers 28) deutlicher, leibhaftiger, wo "schmecken" wir geradezu die Güte Gottes (vgl. Psalm 34, Vers 9), wenn nicht im Abendmahl, in der eucharistischen Speise ? Im "Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim" fragt Jörg Haustein zu Recht, ob von Augsburg das Bild "haften bleiben" wird, "wie Kirchenmänner ... den verblüfften Journalisten zu erklären versuchen, warum zwar ein "ökumenisches Jahrhundertereignis" begangen wird, aber aus schwerwiegenden Gründen natürlich nicht mit einer gemeinsamen Abendmahlsfeier".

Das aber tun wir in diesem Gottesdienst, guten Gewissens und wohlbegründet: Wir feiern und empfangen in Christus Jesus die Gabe, die Gott uns schenkt, ohne unser Verdienst, allein aus Gnaden, zur Vergebung der Sünden.

"Des lasst uns alle froh sein, Christ soll unser Trost sein. Halleluja."

Amen.

 

Rechtfertigung erlebt

Ein Chinese, der Christ geworden war, beschrieb im Gespräch mit anderen, wie er die Rechtfertigung des Sünders durch Christus versteht und erzählte das folgende Gleichnis: Ich war tief in Sünde gefallen wie in eine tiefe Grube, die in Morast endete. Der erste, der mich beim Vorübergehen in dieser Grube entdeckte, war Konfuzius, unser großer Lehrer der Moral. Er rief mir zu: "Armer Mann, du tust mir wirklich leid. Aber wie konntest du nur so töricht sein und in diese Grube fallen? Solltest du hier jemals wieder herauskommen, so sorge bitte dafür, daß du nicht ein zweites Mal hineinfällst." Kurz darauf kam Buddha vorbei und sah mich in meiner erbarmungswürdigen Lage. Der sagte mir, ich solle mindestens die Hälfte der Tiefe emporklettern, dann könne er mich vollends herausholen. Aber ich konnte aus eigener Kraft keinen Zentimeter vorankommen. Schließlich kam Christus. Er hat mir zunächst überhaupt keinen guten Rat gegeben. Vielmehr stieg er selbst in die Grube hinab und zog mich mit seinen starken Armen heraus.