5. Sonntag nach Trinitatis / 3. Juli 1994
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Ferienzeit ist Reisezeit. Nicht für alle, aber doch für sehr viele. Die Gründlichen haben längst gebucht. Vorfreude ist die schönste Freude. Aber auch die Kurzentschlossenen werden noch etwas finden. Und die Wohnmobilfahrer sind fein heraus: heute hier, morgen dort. Sie genießen ihre vagabundierende Freiheit. Darf ich fragen: wohin geht´s? Nach Schweden, nach England, auf eine griechische Insel, an die Nordsee, in die Alpen, nach Terrassien auf Balkonien? Ein jeder wird´s wissen, wohin es geht und wo er bleibt. Nur Er wußte es nicht. Seine Frau hatte beunruhigt nachgefragt. Mann, wo willst du hin? Er zuckte die Achseln. Seine Bediensteten machten alles für die große Reise startklar, nur: keiner wußte so recht, was hier im Gange war und wohin die Reise ging. Ihr Chef wohl auch nicht. 75 Jahre war er alt. Was er schon alles erlebt hatte! Er kannte das Leben, den Schweiß, den Durst, die Erfolge, die Rückschläge, das Umziehen, das Wieder-von-vorne-anfangen. Er teilte mit seiner Frau den Schmerz, kinderlos zu sein. Aber was machte das schon: er hatte es zu Reichtum und Ansehen gebracht. Riesige Schafherden waren sein eigen. Die Leute in Haran begegneten ihm mit Achtung und Ehrerbietung. Er hätte den Lebensabend genießen können. Und nun diese Reise, dieser Aufbruch in die Ferne, ins Unbekannte. - Ihr wißt längst, um wen es geht. Hört einmal, wie die Bibel von jener seltsamen Reise des alten Abram erzählt:

 

Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.
1. Mose 12, Verse 1 - 4

 

Abram zieht los mit Sack und Pack in ein Land, das er noch nicht kennt und von dem er nur weiß und glaubt, daß Gott es ihm zeigen wird.

Zum Reisen gehört ja immer auch ein wenig dieses Aufbrechen in Neuland. Gewiß: wir starten nicht aufs Geratewohl. Wir machen unser Reiseziel auf der Karte aus, besorgen uns alle möglichen Informationen. Wir wollen schon wissen, wohin die Reise geht. Nur: was wir dann erleben, ist doch irgendwie Neuland. Nicht ganz planbar, vorhersehbar. Immer auch anders, als wir es uns vorgestellt haben. Das gehört zum Reiz einer jeden Reise. Sie hält Überraschungen für uns bereit. Und es ist gut, wenn wir noch offen sind für den Zauber des Neuen und Fremden und Ungewohnten. Da könnten wir beim alten Abram noch etwas lernen!

Freilich: Gott als Wegweiser - das ist schon eine merkwürdige Vorstellung. Wir suchen uns das Land der Träume lieber selber aus! Aber ehrlich: wissen wir wirklich, wohin die Reise geht? Nicht in den nächsten Wochen, sondern überhaupt, mit uns selbst, mit den anderen, mit dieser Erde?

Das möchte ich lernen beim alten Abram: Leben, auch das Leben im Alter begreifen als ein Unterwegssein mit Gott, ein immer neues Aufbrechen in noch unbekanntes Gelände. Ob wir das können, so offen bleiben für den Gott, der uns noch einiges zeigen will, der noch einiges vorhat mit uns und vielleicht auch durch uns?

Abram zieht aus! Ausziehen ist mehr als auf die Reise gehen. Wer reist, kommt in der Regel wieder zurück. Freilich: ein wenig Ausziehen ist auch im Reisen drin. Den Arbeitskittel ziehen wir aus und vertauschen ihn mit dem Urlaubsdress. Für einige Tage oder Wochen lassen wir hinter uns die Verpflichtungen und Geschäfte, die manchmal belastenden Begegnungen und das Einerlei und Immerwieder des Alltäglichen. Dann suchen wir anders zu werden: aufgeräumter, großzügiger, fröhlicher, menschlicher. Mitunter geben die Leute auf Reisen auch ganz schön an. Machen auf reich, spielen ein bißchen Schickeria. Aber selbst im Angeben ist noch verborgen der Wunsch, einmal anders zu sein, herauszukommen aus den Rollen, die wir spielen, die andere von uns erwarten, die uns ermüden und manchmal zermürben. Aber dann liegen wir am Strand, schwitzen unter irgendeiner Sonne und uns beschleicht plötzlich das unangenehme Gefühl, wieder heimzumüssen. Zuhause ist es am schönsten, sagen die Leute gerne. Aber manchmal auch ganz eng, verfahren, trostlos, vielleicht nicht außen, da ist alles da! Aber in den Beziehungen, im Innern, da, wo keiner hinschaut und wo ich mich oft genug selbst nicht kenne: im Keller der Seele, in den dunklen Räumen meines Ichs. Ausziehen, wenn das so leicht wäre! Kleider ziehen wir aus, aber nicht unsere Schatten.

Aber dies könnten wir tun: unser Gesicht der Sonne zuwenden, damit die Schatten hinter uns fallen. Vielleicht war für den Abram dieser seltsame Marschbefehl: "Geh! Zieh aus!" wie jene Sonne! Er wendet sich ihr ganz zu und die Schatten eines langen Lebens fallen hinter ihn. Und er wandert einer unbekannten Zukunft entgegen und vertraut darauf, daß der, der ihn schickt, ihn auch begleitet, führt, ans Ziel kommen läßt. Unser Leben ist eine Reise.

Und das ist das Geheimnis: Gott wirbt. Gott ruft: "Mach dich auf den Weg. Ich habe dir noch einiges zu zeigen. Leb doch nicht an mir vorbei. Bin ich nicht der Weg, auf dem du immer schon herkommst und auf dem du noch Größeres sehen wirst?"

Abram zieht los. Er vertraut. Er traut dem seltsamen Ruf mehr als allen Argumenten, die dagegen sprechen. Manchmal müssen wir wohl auch etwas "Verrücktes" wagen, damit Neues wird, damit der Segen eine Chance bekommt.

Was Abram mitnimmt? Seine Frau Sara, den Neffen Lot, sein Hab und Gut, also auch die Herden und die vielen Knechte und Mägde und Zelte, das Wohnmobil des Nomaden. In der Tat, wer mit dem Zelt reist, ist mobil, beweglicher. Wir werden es tun in Schweden und vielleicht ein wenig ahnen: so müßte Kirche sein, die Leute, die auf Gott vertrauen: nicht so seßhaft und angewurzelt, beweglicher, empfänglich für die Winke von oben. Nichts gegen das Planen und Verwalten, aber planen wir zuviel? Gott läßt sich nicht verplanen und verrechnen, das ist seine Freiheit. Die läßt er sich nicht nehmen. An ihr werden wir zuschanden, immer wieder, oder müssen selber Freiheit gewinnen, die Freiheit des Vertrauens.

Und eben das nimmt Abram mit: dieses große unglaubliche Wort vom Segen:

Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Die spannendste Reise, zu der wir aufbrechen können, ist wohl immer eine Reise des Vertrauens, gewagt gegen den Augenschein, gegen die Fakten, gewagt allein im Vertrauen darauf, daß Gott sein Wort hält.

Er, der kinderlose Alte, wird zahlreiche Nachkommen haben. Und in ihm, dem Einzelnen, sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden. Unglaublich, was Gott zusagt und vorhat. Wir sind nicht Abram. Abram ist einmalig, jener Abram, dem dies verheißen und der sich darauf einläßt. Aber wir ahnen, worauf Gott hinauswill.

Auf den ersten Blättern der Bibel wird die ganze Dramatik des sich steigernden Bösen beschrieben, nachdem die Menschen die Grenze überschritten hatten, die Gott setzte. Mord und Totschlag waren die Folgen und alles gipfelte in einem babylonischen Durcheinander und Gegeneinander. Nun setzt Gott neu an. Mit einem Einzelnen beginnt er und hat doch alle im Blick. Er will segnen, dem Leben Kraft und Fruchtbarkeit und Schönheit und Würde und Sinn geben. Und er tut es nicht von oben herab, sondern durch Menschen hindurch.

Wir sind nicht Abram. Aber in ihm hat Gott auch uns im Blick. Segnen will er uns, auch wenn wir die Koffer packen und auf Reisen gehen. Kräfte der Erholung für Leib und Seele gönnt er uns. Und auch dies: daß wir einander zum Segen werden. Zum Segen, nicht zur Plage! Vielleicht denken wir daran, wenn wir im Stau stecken oder ganz dicht neben anderen am Strand schmoren.

Dies noch zum Schluß: Abram wandert ins Land Kanaan und, so weiß der biblische Erzähler zu berichten, er baut an verschiedenen Orten einen Altar, um Gott anzurufen. Wir brauchen den Altar nicht mehr zu bauen. Andere haben ihn längst gebaut. Aber wir dürfen ihn entdecken hier und dort, wohin wir auch reisen. Der Altar, ein Ort, der uns einlädt zu verweilen, mit Gott zu reden, zu spüren, wie er da ist, dabei ist auf der Lebensreise. Und wir dürfen empfangen nahrhafte Reiseverpflegung, Brot und Wein seiner Gemeinschaft. Es wird uns auch heute nicht nur durch den Kopf, sondern auch durch unseren Magen gehen, wenn er segnet über Bitten und Verstehen in Christus, seinem Sohn. Für dich gegeben zur Vergebung der Sünden und damit du weißt: dein Leben ist kein Irrweg, sondern ein Heimweg.