Jubilate / 2. Mai 1993
Pfarrer Wolfgang Raupp

  

Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht was er redet.
Da merkte Jesus, daß sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, daß ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.
Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist. Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und euere Freude soll niemand von euch nehmen. An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er´s euch geben.
Johannes 16, Verse 16 - 23

 

Liebe Gemeinde,

ein süßes Geheimnis soll ich euch heute verraten. Es ist etwas unterwegs! Versteht ihr, was ich meine? Die mich so halb verstehen, möchten jetzt natürlich wissen: Wo denn? Bei wem? Nein! Das verrate ich euch später!

Es gibt Geheimnisse, über die man nicht so einfach sprechen kann. Und alles, was mit der Geburt zu tun hat, gehört dazu. Das ist nicht nur falsche Scham. Es ist etwas Geheimnisvolles um eine Geburt und zugleich etwas Großartiges, Schönes, das man schwer in Worte fassen kann. Manche sachlich ganz richtige Worte machen das Großartige sogar kaputt. Wenn man z.B. sagt: "Die kriegt ein Kind!" mag das sachlich richtig sein. Aber wo bleibt das Schöne an dieser Nachricht? Da gefällt mir der Satz, daß ich euch "ein süßes Geheimnis verraten" will, schon viel besser.

"Es ist ein kleiner Schritt und ihr werdet mich nicht sehen; und noch einmal ein kleiner Schritt und ihr werdet mich sehen." Da haben wir schon wieder so einen geheimnisvollen Satz. Mehrfach hat Jesus sein Hingehen zum Vater und seine Wiederkehr angedeutet. Aber die Jünger hören es und verstehen es nicht. Vielleicht geht es in diesem Satz um noch mehr, als um den Tod und die Auferstehung Jesu vor 2000 Jahren, nämlich darum, daß das Bild, das man sich von Jesus gemacht hat, zerrinnen kann - und wird. Auf einmal kann man Jesus nicht mehr sehen, wie man ihn einmal gesehen hat und lernt ihn vielleicht ganz anders zu sehen. Aber das weiß man vorher nicht. Wie kann das zugehen? Die Jünger fragen einander und diskutieren miteinander, reden, reden, reden über Jesus, aber reden nicht mit Jesus. Über all ihren Glaubensdiskussionen haben sie die lebendige Beziehung zu ihm verloren. So klein ist der Schritt zwischen dem Sehen und Aus-den-Augen-verlieren.

Aber er hat sie nicht aus den Augen verloren, sondern gesehen, wie sie sich in ihrer Diskussion im Kreis drehen. Und er spricht in ihre Ratlosigkeit hinein. "Ihr werdet weinen und klagen, aber der Kosmos wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, aber eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden." Das ist Glaubenswachstum, liebe Gemeinde. Wie habt Ihr euch das denn vorgestellt, das Wachsen im Glauben? Immer vorwärts und aufwärts und stärker im Glauben? Glaubenswachstum ist manchmal auch ein Verlieren, nicht mehr sehen und sich im Kreis drehen. Glaubenswachstum fängt manchmal damit an, daß man seinen Jesus verliert und traurig wird. Die Jünger hatten eine Todeserfahrung vor sich, den Tod Jesu. Darauf wollte sie Jesus vorbereiten. Darum sagt er ihnen: Durch diese Todeserfahrung hindurch soll euch neues Leben geschenkt werden. Versteht Ihr das? Die Jünger haben es auch nicht verstanden. Wenn Ihr es nicht verstehen könnt, dann behaltet es in eurem Herzen, bis Ihr eure Todeserfahrung macht. Dann aber denkt daran: Durch diesen Tod hindurch schenkt mein Herr das Leben neu. "Eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden." Das ist eine besondere Art von Freude, nicht einfach Spaß. Diese Freude ist verwandelter Schmerz, verwandeltes Leid, verwandelte Trauer, Freude über neues Leben nach einer Todeserfahrung. Vielleicht kommt uns das alles sehr geheimnisvoll und ein bißchen abstrakt vor. Auch Jesus wollte dieses Geheimnis anschaulich machen. Darum gebrauchte er das Bild von einer Geburt. Er sagt: "Eine Frau, wenn sie gebiert, hat sie Trauer, denn ihre Stunde ist gekommen", ihr Stündlein hat geschlagen. Damals sind viele Frauen bei der Geburt gestorben. "Wenn sie aber ihr Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist. So habt auch ihr jetzt Trauer. Aber ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen." Der Glaube wächst nicht einfach so vor sich hin, sondern er wird durch Erfahrungen des Verlusts und der Trauer und des Todes hindurch wiedergeboren.

Wiedergeburt - schon wieder so ein schweres Wort! "O, Mann, wie soll das zugehen? Man kann doch nicht in den Leib seiner Mutter zurückkriechen und noch einmal geboren werden," sagt Nikodemus und hat recht - und liegt doch voll daneben. Wiedergeburt heißt, daß Christus in uns geboren wird. Könnte es sein, daß es Dinge gibt, daß es Wirklichkeiten gibt, für die wir kaum angemessene Worte finden, für die jedes Bild aus unserer alltäglichen Erfahrung mindestens ein bißchen schief ist? Bleiben wir gerade einmal bei dem Wort "Wiedergeburt". Ein Mensch soll wiedergeboren werden. Wer ist denn da schwanger? Wer bringt uns als neue Menschen zur Welt? Eigentlich Gott. Aber dann müßte ja Gott schwanger sein und eine Frau sein. Aber das ist ja nicht vorstellbar. Oder doch?

So ist das mit diesen Geheimnissen. Wenn man da erst einmal darüber nachdenkt und anfängt darüber zu reden, dann kommt man bald an einen Punkt, wo man über die eigenen Füße stolpert. Ich will darum versuchen, dieses Geheimnis noch einmal anders zu sagen: Liebe Gemeinde, ihr seid schwanger! Das ist das süße Geheimnis, das ich euch sagen soll. Gott hat sein Leben in euch hineingelegt. Christus soll in euch geboren werden. Das Reich Gottes soll durch euch zur Welt kommen. Ihr Frauen da unten, inklusive aller alten Omas: Ihr seid schwanger! Ihr Männer da oben - es klingt verrückt - ihr seid schwanger. Das heißt: Gott hat sein Leben in euch hineingelegt. Wenn Gottes Leben wächst und wird, und euch und den ganzen Kosmos erneuern will, dann wird das mit Todesangst und Geburtsschmerz verbunden sein. Aber trotzdem: Christus soll in euch geboren werden. Gottes Reich soll durch euch zur Welt kommen.

Hoffentlich haltet ihr mich nicht für verrückt, wenn ich solche Sätze gebrauche. Ich habe immerhin ein ernstzunehmendes Vorbild: Auch der Prophet Jesaja hat so verrückte Sachen gesagt. In Jesaja 27, Vers 17f spricht er zu Gott: "Gleich wie eine Schwangere, wenn sie gebären soll, sich ängstigt und schreit in ihren Schmerzen, so geht´s uns auch, Herr, vor deinem Angesicht. Wir sind auch schwanger und uns ist bange und wenn wir gebären, so ist´s Wind." Merkt ihr, wie sich der Prophet und sein Volk mit dem neuen Leben abquälen? Da haben Menschen mit Gott gelebt, aber das ersehnte neue Leben erweist sich als Scheinschwangerschaft. Es kann einfach nicht zur Welt kommen. Welche Not und welche Enttäuschung! Und wir haben gehört und dürfen glauben, daß Gottes neues Leben durch Jesus in die Welt gekommen ist. Und in euch und durch euch will es Gestalt gewinnen. Dort, wo wir von Gottes Geheimnissen reden, geraten wir an die Grenzen des Sagbaren. Das Bild von der Schwangerschaft soll uns helfen. Probieren wir darum einfach einmal aus, ob uns dieses Bild noch ein Stück weiterhilft. Ich habe mir überlegt: Wenn ich euch eine Schwangerschaft ansage, müßte ich eigentlich auch noch ein Stück Schwangerschaftsberatung machen. Aber da fühle ich mich als Mann eigentlich überfordert. Deshalb wollte ich euch fragen, ob eine oder zwei oder drei Mütter oder Großmütter da sind, die etwas dazu sagen könnten. Was sagt man jemandem, der gerade gehört hat, daß er schwanger ist? Wie soll man sich da verhalten? Wie soll man sich drauf einstellen? Geniert euch nicht und geht ans Mikrofon, damit man euch besser hören kann.

Ich verstehe nicht viel von Schwangerschaft. Aber drei Dinge sind mir eingefallen, die ich euch mitgeben möchte:

Erstens denke ich, wirft eine Schwangerschaft manchmal die eigenen Vorstellungen vom Leben durcheinander. Manche treiben lieber ab, damit sie so weiterleben können, wie sie es gewohnt sind und wie sie es wünschen und planen. Ich denke, wer gehört hat, daß neues Leben in ihm angefangen hat, der muß erst einmal ein Ja dazu finden, sagen lernen: Ja das will ich. Darum bitte ich euch: Treibt nicht ab. Laßt das neue Leben wachsen, das Gott in euch hineingelegt hat.

Das zweite, was mir einfällt zum Thema Schwangerschaftsberatung, ist, daß man selbst eigentlich gar nicht viel tun kann außer werden und wachsen lassen und abwarten. Das klingt an in dem Satz Jesu: "Ich will euch wiedersehen". Vorher war ja vom Sehen und Nichtsehen, also von den Erfahrungen der Jünger die Rede. Aber das neue Leben baut nicht auf dem auf, was wir sehen oder nicht, was wir erfahren und erleben oder nicht, sondern darauf, daß er nach uns sieht. Er sieht uns, auch wo wir in unseren Todeserfahrungen ihn nicht sehen. Das ist tröstlich.

Das letzte und Wichtigste und Gesündeste, was man Schwangeren raten kann, heißt: "Euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen." Wer schwanger ist, soll sich freuen. Darum sage ich uns Schwangeren: Jubilate.

Wenn ihr dieses süße Geheimnis fassen könnt oder wenigstens wie Maria halb verstanden mitnehmen und in eurem Herzen bewegen wollt, dann dürft ihr es machen wie sie. Als Maria gehört hat, daß Gottes Leben in ihr angefangen hat und das Geheimnis dieses Satzes noch gar nicht fassen konnte, da hat sie geantwortet: "Mir geschehe, wie du gesagt hast." Das könnt ihr auch sagen. Oder ganz kurz: "Amen", so soll es sein!