14. Sonntag nach Trinitatis / 1. September 1991
Pfarrer Klaus Zimmermann

  

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, daß er durch Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, daß er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.
Lukas 17, Verse 11 - 19

 

Liebe Gemeinde,

einer kehrt um und gibt Gott die Ehre. Einer von zehn, die vom Aussatz geheilt wurden. Nur einer? Immerhin: 10 Prozent. Es könnten mehr sein. Aber wie oft sind es noch weniger? "Undank ist der Welt Lohn", so sagen wir, wenn wir vergeblich auf ein Wort des Dankes oder der Anerkennung gehofft haben. Merkwürdig: wir erwarten Dank und bleiben ihn selber oft schuldig. Wenn Gott Statistik führen würde - wir müßten wohl alle erschrecken. Aber lassen wir das Klagen. Die Geschichte von dem einen, der umkehrt und Gott die Ehre gibt, läßt hoffen. Denn: wieder ist es ein "Samariter", der tut, was die anderen versäumen. Also ein Fremder, Ungläubiger, Gottloser, (nach jüdischer Meinung!). So geschieht gerade dort Dank, wo wir es am wenigsten vermuten. Das muß uns überraschen und das läßt uns zugleich hoffen auf unerwartete Zuwachsraten. Vielleicht steigern wir uns in Dietlingen auf respektable 20 Prozent? Ich gestehe: mit meiner Predigt will ich Lust zum Danken wecken. Denn wer dankt, hat mehr vom Leben, ganz einfach, weil er mehr vom Leben weiß. Unsere Geschichte erzählt, wie es zugeht, wenn ein Mensch ins Danken kommt. Lassen wir uns einfach mit hineinnehmen in die Bewegung des Dankens.

Im staunenden Sehen liegt der erste Schritt zum Danken. Es heißt: "Einer aber unter ihnen, als er sah, daß er gesund geworden war, kehrte er um." Einer sieht, was an ihm geschehen ist. Natürlich haben es die anderen auch gemerkt. Aber sie nahmen es wohl nur flüchtig zur Kenntnis. Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich schon auf dem Weg zu den Priestern über dies oder jenes geärgert haben und zuhause sofort einen Verdruß hatten mit Frau und Kindern. Sie klagen weiter, auch wenn es nicht mehr der Aussatz war, über den sie zu klagen hatten, und darüber vergaßen sie natürlich das Danken. Ob sie unzufrieden blieben, weil sie den Dank versäumt hatten? Es liegt dem natürlichen Menschen näher, zu klagen und sich zu beklagen als sich zu freuen und sich zu bedanken. Wer aber gänzlich befangen ist in seinen Enttäuschungen und Leiden oder in der allgemeinen Misere der Welt, der ist geneigt, gar nicht mehr zu sehen und zu werten, was gut und schön ist in seinem Leben, und es senkt sich auf alles ein grauer Schleier der Verdrießlichkeit und des Pessimismus. Von jenem einen will ich das Sehen lernen, das staunende und beglückte Wahrnehmen, das Sich-freuen über das überraschende und unerwartete Geschenk der Gesundheit. Lassen wir uns Zeit beim Sehen, beim gründlichen Hinsehen und achten wir auch auf das Kleine und Unscheinbare. Geben wir dem Staunen und dem Sich-wundern eine Chance. So fängt das Danken an.

Der nächste Schritt ist dann die Umkehr. "Er kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme." Wer ins Danken kommen will, darf es nicht eilig haben. Wir lassen uns Zeit zum Innehalten und Umkehren. Das fällt uns schwer. Nur zu gern laufen wir weiter, aber gerade so verläuft sich der Dank. Wie sehr haben wohl die Aussätzigen sich nach der Gesundheit ihres Lebens gesehnt und wie sehr haben sie die Wärme und Geborgenheit menschlicher Gemeinschaft vermißt. Was man entbehrt und vermißt, steigt in seinem Wert und wird, wenn es wiedergeschenkt wird (wie dem Kranken die Gesundheit, dem vom Krieg Bedrohten der Friede, dem schmerzlich Getrennten die Nähe der geliebten Menschen) wenigstens für eine Weile ein Grund der Freude und der Dankbarkeit. Es ist aber erstaunlich, wie schnell man sich dann wieder an den Besitz gewöhnt und alles wieder selbstverständlich hinnimmt. Innehalten und Umkehren ist eine hilfreiche Übung wider jene schlechte Gewöhnung, die in allem Guten und Schönen nur pure Selbstverständlichkeit sieht.

Der Dankende kehrt um zu dem, dem er danken kann. Wer umkehrt, bevor er weitergeht, sucht ein Gegenüber, denn er empfindet das Gute, das ihm widerfahren ist, als ein persönliches Geschenk, als den Ausdruck und das Zeichen eines ihm in Liebe zugewendeten Herzens. Einem alten Vater hatten die Kinder zum Geburtstag ins Altersheim ein großes Geburtstagspaket geschickt. Beim Auspacken wollte keine Freude aufkommen. Die Mitbewohner des Alten merkten es und wollten ihn aufmuntern. Kommentar des Alten: "S'ist halt keine Liebe drin!" Wer umkehrt, hat die Liebe entdeckt, die drinsteckt in all dem Guten, das uns zuteil wird. Der Dank meint also nicht in erster Linie den sachlichen Wert oder Nutzen eines Besitzes, einer Tat, eines Dienstes, sondern die Wärme des Herzens, die uns darin berührt, das Wohlmeinen, das uns begegnet.

Der Aussätzige ist wider Erwarten gesund geworden. Das versetzt ihn in staunende Freude. Aber zugleich weiß er sich berührt von Gottes heilender und segnender Nähe. Das macht ihm Beine, läßt ihn umkehren und die Liebe suchen, die in Jesus menschliche Gestalt angenommen hat.

Er kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme. Ohne Zweifel: auch die leise Stimme findet bei Gott Gehör. Aber wir schämen uns auch nicht der lauten Stimme. Es ist mitunter befreiend, wenn sich lauthals äußern darf, was uns inwendig erfüllt und beglückt. Und so geschieht dann ein Letztes: das dankerfüllte Herz löst sich von dem eigenen Lebensinteresse und kehrt wirklich um zu dem Geber und gibt ihm die Ehre, die ihm zukommt. Wer gänzlich befangen bleibt in seinem eigenen Ehr- und Interessensbereich und darum den anderen, auch Gott, nur unter dem Gesichtspunkt des eigenen Nutzens sieht und wertet, wird immer undankbar bleiben. So gesehen ist Undankbarkeit ein unheimliches Zeichen dafür, daß ein Mensch letztlich nur sich selber kennt, seine eigene Ehre. In jener Umkehr vollendet sich aber die Bewegung der Liebe zum schönen Kreis. Da schwingt der Dankende mit Leib und Seele ein in die Bewegung der Liebe und kehrt zurück zum Ursprung, dem er sich ganz verdankt. Die lateinische Sprache hat für Danken den köstlichen Ausdruck gratiam referre; das heißt, daß etwas "zurückgebracht" wird zu seinem Ursprung und daß damit erst der Beschenkte wirklich mitschwingt in der Bewegung des Heils und der Liebe.

Das Danken ist nicht ohne leibliche Gebärde. Von jenem Samariter heißt es, daß er auf sein Angesicht fiel zu Jesu Füßen. Was uns inwendig bewegt, drängt nach einem leibhaftigen Ausdruck. Liebende umarmen und küssen sich. In der Berührung spüren wir die Wärme des Herzens. Der Dankende will Gott auf den Knien die Ehre geben. Es gibt Dinge, die erschließen sich uns nur auf den Knien. Daß wir in unseren Kirchen dazu weithin keine Möglichkeit mehr haben, empfinde ich als einen schmerzlichen Mangel. Auf den Knien spüren wir die Erde, die uns trägt und mit Gütern beschenkt und wir erleben uns befreit von allen Allmachtsphantasien. Menschen dürfen wir sein, Menschen unter Gott, von ihm gesegnet, von ihm geliebt, berufen, um Christi willen das Leben zu gewinnen, das Leben dieser und der kommenden Welt. Wer dankt, weiß mehr vom Leben, weiß, daß wir Beschenkte sind. Ob es zehn Prozent wissen? Wir legen uns nicht fest. Es könnte ja sein, daß die Lust zum Danken noch weiter wächst.