10. Sonntag nach Trinitatis / 4. August 1991
Pfarrer Klaus Martin Bender

  

"ES IST ZUM HEULEN!" Dieser Satz ist uns nicht fremd. Wir kennen auch das Gefühl, das uns bei diesem Satz überkommt.

Dann:

- Wenn es einem eng und weh ums Herz ist, wenn man ein Problem lösen möchte und die Lösung nicht findet,

- wenn einem das Leben verleidet ist und man zu nichts Freude und Lust hat,

dann ist es "ZUM HEULEN!"

Nur, wer so etwas sagt oder fühlt, heult in der Regel nicht, sondern versucht, sich mit anderen Parolen durchzukämpfen. "Augen zu und durch" - "Indianer kennen keinen Schmerz" - "Männer (-deutsche vor allem!-) weinen nicht" - "Komm, beiß die Zähne zusammen".

HEULEN: ein Bedürfnis, das in uns allen, Frauen und Männern steckt. Wer heult oder weint, erhebt Einspruch, meldet sein Nein an! Nein gegen die seelische Verletzung, Nein gegen die Einsamkeit, Nein, weil andere nicht zuhören und einem nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Heulen und Weinen ist die wehrloseste und vielleicht menschlichste Art des Einspruchs. Und noch eins: Heulen und Weinen macht die Augen klar und klärt den Blick!

Diese wehrloseste und menschlichste Art des Widerspruchs war Jesus nicht fremd. Hören wir den vorgeschriebenen Predigttext:

 

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist´s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.
Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus sein; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, daß sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.
Lukas 19, Verse 41 - 48

 

Jesus weint über Jerusalem. Jerusalem, das ist nicht nur die Stadt in Israel, Jerusalem, das heißt übersetzt: "sie sieht den Frieden". Jerusalem, das ist jede menschliche Ansiedlung und die Menschen in ihr, die zur Nähe Gottes berufen sind. Jerusalem, das bedeutet aber auch die Zukunft der Menschen mit Gott, die totale Nähe Gottes bei den Menschen; darum als Hinweis die Schriftlesung aus Offenbarung 21!

Jesus weint über Jerusalem, weil Jerusalem die Gelegenheit verpaßt, Gott zu begegnen. Und, liebe Gemeinde, Jerusalem ist überall.

"... daß du erkennen mögest, was zu deinem Frieden dient!"

Wer um einen andern weint, schlägt eine Brücke zu ihm, die Brücke der Liebe! So erhebt Jesus Einspruch gegen die Halbheit eines Lebens, das ganz sein könnte, wenn, ja wenn ...

Wenn Menschen Gott erkennen, sehen, d.h. nicht blind für ihn sind. Nicht blind für Gott und zwar im richtigen Augenblick. Nicht blind für Gott, d.h. im Bild: in die Sonne zu schauen, wenn die Nebelwand zerreißt, und nicht trödeln, bis der Nebel sich wieder verdichtet hat.

Doch was will Gott? "Heimsuchen", d.h. daheim aufsuchen - welch bezeichnendes Wort! Wir haben eine Stelle in unserm Innern, wo wir wirklich daheim sind. Das ist die Stelle, wo wir ganz selbst sind, wo die verborgenen Quellen unserer Person liegen, wo wir kein Versteck mit uns selbst mehr spielen. Hier sucht Gott uns auf! Wer Einspruch erhebt, muß sich nach den Chancen für eine Heimsuchung fragen lassen. Dies gilt auch für Jesus. Hier bei Lukas setzt der Text neu ein. Jesu Tat ist eine eindrückliche Antwort. Jesus reinigt den Tempel. Aus der Räuberhöhle soll ein Bethaus werden. Was heißt das? Der Stil und das Wesen der Gottesbegegnung muß sich ändern.

Räuberhöhle: d.h. mit Gott wird gehandelt: ich gebe, damit du gibst. Und das Bethaus: Hinhören, Lauschen, Stillesein, Schenken, Teilen und Teilhaben. Dann kommt der Gott Jesu, den Jesus Vater nennt, in den Blick und ins Herz! Bethaus, ein Haus oder auch unser Herz als Raum verstanden, der anders ist als der Rest der Welt; eine Oase, ein Platz, von dem aus ich mich und meine Welt wieder anders sehen kann; Raum und Zeit, um das eigene Denken und Tun an Gott anzubinden und neue Orientierung und Mitte im Getriebe zu finden. Das Bethaus und mein eigenes Herz, nicht eine triste, muffige Stätte, sondern ein Platz auch zum Lachen, Weinen und vor allem Atemholen.

Das will Jesus: das Bethaus und das Herz, als Raum, Zwischenraum in der Welt des Alltags, um aufzutanken und sich selbst wiederzufinden. Darum weint Jesus und erhebt Einspruch, und zwar nachdrücklich, wie die Tempelreinigung zeigt.

Doch er weint um uns, um alle, die zur Gottesnähe berufen sind. Wer weint, sieht klar. Wer weint, schlägt eine Brücke, die Brücke der Liebe! Sollte Jesus umsonst geweint haben?