Palmarum / 15. April 1984 / Konfirmation
Pfarrer Wolfgang Raupp

  

Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken laßt.
Hebräer 12, Verse 1 - 3

 

Liebe Gemeinde,

kennen Sie zufällig das Buch "Die Möwe Jonathan"? Ich wurde wieder daran erinnert, als es Antje am Montagabend im Jugendkreis vorstellte.

Jonathan ist eine Möwe. Er wächst in einem Schwarm auf, der immer bloß am Ufer hockt und höchstens zur Futtersuche einmal kurz aufflattert. Eines Tages aber merkt Jonathan, daß er eigentlich mehr ist als bloß ein Kurzstreckenflatterer. Er ist zum Fliegen geboren. Fliegen, das heißt: sich erheben, sich vom alten Ufer lösen, sich in einem weiten Horizont bewegen, wissen, daß es noch ein anderes Ufer, ein anderes Land gibt. Jonathan macht sich auf und fliegt. Er läßt sich auf seine Berufung ein und lernt sein eigentliches Leben erst richtig kennen. Er merkt: das heißt Leben: fliegen, gelöst von der Erdenschwere eintauchen in das neue Element Luft, sich diesem Element anvertrauen, im langsamen Gleiten das Getragenwerden erleben - und in Spitzengeschwindigkeiten das Gefühl des Vorwärtsstürmens erfahren.

Da gibt es noch eine andere Möwe. Die kann nicht fliegen. Sie hat einen lahmen Flügel. Sie hockt bloß am Ufer, rennt auf dem Boden herum und macht bestenfalls ein paar Luftsprünge. Diese andere Möwe schaut Jonathan zu, wie er fliegt. Sie sagt zu ihm: "Ach, wenn ich doch nur fliegen könnte! Für mein Leben gerne möchte ich fliegen können."

Sie haben vielleicht schon gemerkt, daß die Geschichte von der Möwe Jonathan nicht wörtlich zu verstehen ist, als ob sie im Biologiebuch stünde. Es ist eine Parabel, in der auf indirektem Wege von etwas geredet wird, von dem wir schwer reden können, weil uns die Worte dazu fehlen. Es wird von einer Sehnsucht geredet, die - wie ich vermute - alle Menschen in ihrem Herzen tragen, von einer Sehnsucht nach einem neuen, anderen Leben.

"Nicht bloß auf dem Boden hocken und nach Futter suchen. Ich wollte, ich könnte fliegen. Ich wollte, mein Leben würde nicht bloß aus irdischen Belangen und Interessen bestehen: Sorge für Essen und Trinken und was man sonst noch braucht zum leiblichen Überleben. Ich wollte, ich könnte zum Himmel aufsteigen. Ich wollte, mein Leben hätte einen ganz weiten Horizont, ich könnte mich erheben über diese Erde und ans andere Ufer sehen. Ich hätte die Hoffnung, daß ich eines Tages dorthin fliegen könnte - ans andere Ufer."

Die Möwen, von denen da erzählt wird, das sind wir. Liebe Möwinnen und Möwen, wie geht es Ihnen? Was machen Ihre Flugkünste? In welcher dieser Möwen finden Sie sich wieder? In Jonathan oder im flügellahmen Bruder?

Ich weiß, das ist eine schwere Frage. Mit dem Glauben ist es ja so eine Sache "Er ist eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht." So heißt es im Hebräerbrief ein paar Sätze weiter vorne.

Wie kann ich mich auf dieses Ungewisse, das man nicht sieht, einlassen? Trägt es mich denn? Kann ich so sehr daran glauben und nicht zweifeln, daß ich es wage, mich abzustoßen wie die Möwe von der Klippe, meine Flügel auszubreiten und mich von diesem neuen Element "Glauben" tragen zu lassen? Kann ich es wagen?

Ich weiß nicht, wie dieses fliegende Glauben und glaubende Fliegen im Augenblick bei Ihnen aussieht, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich weiß auch nicht, ob Sie sich getrauen würden, davon zu erzählen, obwohl es mich sehr interessieren würde. Vielleicht geht es darum, in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten, eine ganz neue Aufgabe zu übernehmen, von der Sie noch gar nicht wissen, ob Sie das können. Vielleicht geht es darum, sich einem Menschen anzuvertrauen. Vielleicht darum, dieses neue Jahr mit seinen Aufgaben und Schwierigkeiten ohne Angst, voll Ruhe und Zuversicht in die Hand zu nehmen. All das bedeutet, sich auf das neue, kommende Leben einzulassen, darauf vertrauen, daß es trägt, wie die Luft die Möwe. So zu leben ist wie Fliegen und wie Glauben.

Vielleicht geht es für manchen unter uns darum, endlich einfach mit dem Glauben ernst zu machen, nicht bloß vom Glauben und über den Glauben zu reden, sondern im Glauben zu leben, z.B. so, wie es in der Bergpredigt steht. Kann ich denn das? Wird das gutgehen? Kann ich es wagen? Jonathan sagt seinem Bruder: "Es hat keinen Wert, nur über das Fliegen zu reden. Du mußt es probieren, du mußt dran glauben, die Flügel ausbreiten und fliegen."

Unser Bibeltext hilft uns noch ein Stück weiter. In den vorangehenden Versen erinnert er uns daran, daß viele andere vor uns sich auch schon diesem Glauben anvertraut haben - und getragen wurden. Von den vielen Namen, die da aufgezählt werden, möchte ich nur die bekanntesten in die Erinnerung zurückrufen:

Noah hat geglaubt, was er nicht sah. Er hat die Arche gebaut und wurde gerettet. - Abraham zog in ein Land, das er nie gesehen hatte, und wurde reich, innerlich und äußerlich. - Sara hat geglaubt, was unmöglich schien, und aus ihrem toten Leib kam Leben. - Moses hat an die Macht Gottes geglaubt, die er nicht sah, und führte die Israeliten aus der Macht Ägyptens, die er sah, in ein Land, das sie zuvor nie gesehen hatten, usw.

Hat es solche Erfahrungen nur in biblischer Zeit gegeben? Ich weiß, daß hier in dieser Kirche Leute sind, die aus ihrer eigenen Lebenserfahrung bestätigen können: Ich habe mein Leben glaubend Gott anvertraut, und er hat mich getragen.

"Darum auch wir", so fährt unser Text fort, weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, die uns bestätigen, daß man sich unserem Gott anvertrauen kann, "darum laßt uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist."

Hier ist nicht vom Fliegen die Rede, sondern von etwas Menschlicherem, vom Laufen. Aber gemeint ist das gleiche, das Aufbrechen, das Weggehen vom alten Ort, das Sich-tragen-lassen, eine neue Perspektive gewinnen und das stürmische Zufliegen auf dieses neue Ziel. Und auch beim Laufen gibt es Leute, die wie flügellahme Möwen sind, die nicht aus ihren Startlöchern herauskommen, die auf der Stelle treten, und nichts geht so recht vorwärts. Denen wird gesagt: Laßt uns ablegen, was uns schwer macht! Wer über 100 Meter sprinten will, der kann nicht das Kofferradio mitschleppen, weil er nebenher noch Hitparade hören will, der muß den Hut abziehen, den Mantel ausziehen. Raus aus dem Trainingsanzug!

Was macht uns die Beine so schwer, die Flügel so lahm, die Herzen so schwer? Was zieht uns auf den Boden runter? Das kann ich nicht wissen, das kann ich für Sie nicht entscheiden, das muß wieder jeder von Ihnen in seinem Herzen meditieren. Geht es vielleicht um etwas aus der Vergangenheit, das in Ordnung gebracht werden soll? Geht es um etwas, das lieber und teurer geworden ist als Gott, und das viel Kraft und Zeit kostet? Oder ist es einfach eine Summe von Gewohnheiten, geht es um einen bestimmten Lebensstil, der sich im Laufe der Zeit eingeschlichen hat und der so angenehm und praktisch ist? Laßt uns ablegen, was uns beschwert! Die Möwe, die das Element Luft erobern will, muß die Klippe unter ihren Krallen loslassen.

Ich glaube, ich weiß, was manchen von Ihnen jetzt durch den Kopf geht. Die denken: Du sagst das so einfach, loslassen, etwas Liebgewordenes loslassen oder etwas, das mir bisher Sicherheit gegeben hat wie der Felsen unter den Füßen der Möwen. Auch dazu sagt unser Bibeltext etwas Richtungsweisendes:

"Laßt uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher, da er wohl hätte können Freude haben, erduldete das Kreuz und achtete der Schande nicht und hat sich gesetzt zur Rechten des Thrones Gottes."

Aufsehen! Verstehen Sie, was damit gesagt ist? Jesus hat auch losgelassen, als er Mensch wurde und auf diese Erde kam. Aber jetzt sitzt er zur Rechten des Vaters und hat die Fülle des Lebens. Laßt uns aufsehen und an ihm erkennen: Wenn wir loslassen, was uns beschwert, dann stehen wir nicht mit leeren Händen da. Wir werden nicht arm, sondern reich. Am Ende des Laufes wartet ein herrliches Ziel. Wenn ich zu einem Kind, das im Sand spielt, sage: "Lege deine Förmchen weg!" dann antwortet es vielleicht: "Nein, mir gefällt das!" - Wenn ich aber sage: "Komm her, es gibt Erdbeeren mit Schlagrahm!" dann läßt es wahrscheinlich die schmutzigen Förmchen von selber fallen, weil ein lohnendes Ziel winkt. Darum laßt uns aufsehen! Laßt uns auf Jesus schauen, der auf die Bequemlichkeiten eines gutbürgerlichen Lebens verzichtet und gelittet hat. Laßt uns auf Christus schauen:

- Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend, nackt und bloß in einem Krippelein.

- Er äußert sich all seiner G´walt, wird niedrig und gering, und nimmt an sich ein's Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.

Denkt an den, der alles losgelassen hat, was er hatte, sogar sein Leben. Gott hat ihn getragen und zu sich aufgenommen. Er sitzt zur Rechten des Vaters. Und da sind noch Plätze frei - für uns. Schaut auf ihn, daß ihr nicht matt werdet und nicht den Mut verliert. Laßt uns aufsehen auf ihn. Er lehrt uns fliegen!