Sexagesimae / 17. April 1983
Pfarrer Helmut Metzger

  

Liebe Gemeinde,

lassen Sie mich heute mit einem ganz persönlichen Bekenntnis beginnen:

Es ist nun genau elf Wochen her, daß mich eine zunächst unerklärliche Krankheit zuerst ins Bett und dann in die Klinik brachte. Seit vier Wochen darf ich wieder zuhause in Dietlingen sein - aber ich bin nicht mehr der Alte. Ich weiß, daß in meinem Rückenmark eine Zeitbombe tickt. Das sensible Nervensystem in meiner rechten Körperhälfte war bereits gelähmt; heute habe ich nur noch einen scheinbar kalten Arm und ein pelziges Knie - die Sehleistung meiner Augen ist fast wieder wie früher.

Meine Krankheit ist im Augenblick zum Stillstand gebracht. Ich darf - mit Einschränkungen - wieder meinen geliebten Beruf nachgehen. Indessen: Die Ursache läßt sich trotz modernster Medizin nicht beseitigen. Arzneien können die schlimmsten Folgen erträglicher machen; gesund werde ich mein ganzes Leben lang nie mehr sein.

Am 12. Februar eröffnete mir der Chefarzt sein Diagnose; Encephalomyelitis disseminata, eine Form der Multiplen Sklerose. Die Welt drohte für mich zusammenzustürzen. Aber dann durfte ich eine Erfahrung machen, die ich mir vorher so nicht vorgestellt hatte: Mit jedem Bibelwort aus dem Herrenhuter Losungsbüchlein richtete mir Gott seine Botschaft aus. Tag für Tag; mir ganz persönlich.

Und als ich am 17. Februar den Psalmvers zum Tage las, da spürte ich: Das gilt dir. Da stand nämlich: "Wir haben einen Gott, der da hilft, und den Herrn, der vom Tode errettet." (Psalm 68, 21). Am selben Tag hörten die Nervenlähmungen in Brust, Bauch und Gehapparat auf. Das Cortison begann zu wirken.

Ich will nicht von einem Wunder sprechen; ärztliche Kunst vollbringt so etwas. Aber: Ich weiß ganz genau: Gott läßt die Seinen nicht im Stich. Am 17. Februar 1983 nahm ich mir auf der Neurologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Pforzheim vor: Wenn ich je wieder die Gelegenheit dazu bekomme, muß ich meiner Gemeinde davon erzählen. Und ich brauche dabei nicht aus dem hohlen Bauch zu säuseln; ich darf mich auf die biblische Botschaft berufen.

Gottes Pläne sind für uns Menschen oftmals unerforschlich. Die letzte Predigt, die ich vor meiner akuten Erkrankung in Angriff genommen hatte, befaßte sich mit einem Abschnitt aus dem Propheten Jesaja. Damals blieb es mir versagt, den Gottesdienst zu halten - und siehe da: Keiner meiner Vertreter predigte darüber. Und so will ich es heute nachholen; nicht, weil ich mich um die heutige Perikope drücken möchte, sondern weil mich diese Verse elf Wochen lang begleiteten. Vor einem Vierteljahr hätte ich mich distanziert mit dem Text auseinandergesetzt. Heute kann ich bezeugen: Die Heilige Schrift lügt nicht. Wort für Wort offenbart sie die Wahrheit. Und diese Wahrheit kann frei machen. Frei von Sorge und frei von Angst.

 

Suchet den Herrn, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.
Jesaja 55, Verse 6 - 12

 

Der Mittelabschnitt ist vermutlich auch für Sie der bekannteste: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken ..."

Bei Beerdigungen begegnet uns dieses Wort am häufigsten; und selbst Gemeindeglieder, von denen ich nicht behaupten kann, daß sie treu zur Gemeinde halten, selbst die habe ich schon verzweifelt sagen hören: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, spricht der Herr ..." Resignierende Einsicht: Der Mensch denkt, aber Gott lenkt. Tröste dich, flüstert uns der Verursacher ein, denn auch durch Schmerz und Trauer kannst du nichts ändern. Gott wird immer tun, was ihm paßt, ohne Rücksicht auf unsere Gefühle, auf unsere Kraft, auf unseren Glauben. Beispiele ließen sich genügend aufzählen: Da wird ein Mensch von heute auf morgen vom Schlag getroffen - Herzinfarkt - tot. Ein anderer, sein Lebtag fleißig, wird entlassen, weil sein Betrieb pleite macht, und steht auf der Straße. Ein dritter, noch jung, muß mit einer heimtückischen Krankheit fertig werden, während sich ein vierter, hochbetagt, nach dem erlösenden Ende sehnt und vergessen worden zu sein scheint. "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken", spricht der Herr ...

Liebe Gemeinde, wer so von Gott denkt, liegt schief. Der hat nicht begriffen, wie lieb uns Gott in Wirklichkeit hat. So lieb, daß er uns nie und nimmer quälen will. Hat er nicht sogar seinen Sohn geopfert, am Kreuz von Golgatha, damit der Tod und das Leid und die Trauer und der Schmerz nicht das letzte Wort haben?!

Anders herum gefragt: Steckt hinter unserer Weisheit "Der Mensch denkt - Gott lenkt" nicht eine bitterböse Überheblichkeit, so als ob unser Denken zu 100 Prozent das einzig richtige sei, und Gott uns nur deshalb stracks zuwider handelt, weil er uns ärgern will? Was für eine ungläubige, ja: törichte Haltung.

Gerade das Gegenteil ist der Fall: Wir hätten Strafe verdient, Zorn und Verderben für unser Sturheit, die wir manchmal an den Tag legen, für unseren tiefen Unglauben ( - trotz der frommen Sprüche, die uns so leicht über die Lippen gehen). Denn: "Der Tod ist der Sünde Sold".

Aber Gott will nicht den Tod. Gott will Verzeihung, Erbarmen für alle, die zu ihm gehören. Wenn Jesaja feststellt, daß Gottes Wege andere sind als unsere Wege, so steckt dahinter eine Verheißung, ein Versprechen: Gott geht nicht so mit uns um, wie wir es verdient hätten, sondern er läßt sich umstimmen; er bietet Gnade statt Recht.

Davon verkündet Jesaja in unserem Predigttext: "Der Herr, heißt es in Vers 7, der Herr wird sich über den Bußfertigen erbarmen, denn bei ihm ist viel Vergebung." Ein schönes Wort, eine Zusage, die mir Mut macht und Kraft schenkt: Auch wenn mein Handeln vor Gott nicht bestehen kann, wenn ich Fehler mache, wenn ich trotz allen guten Willens immer wieder zurückfalle in mein sündiges, böses Leben und Denken - und wer von uns kann sich rühmen, daß er besser sei?! - auch dann verschließt sich unser himmlischer Vater nicht. Wider alle menschliche Vernunft und Logik breitet er seine Arme aus und hält sich bereit, uns zu helfen, uns anzunehmen. Darum: Suchet den Herrn! Hört nicht auf, Ausschau nach ihm zu halten! Wer sucht, der findet auch!

Im Krankenhaus lag während der letzten zehn Tage ein Querschnittsgelähmter neben mir. Ich weiß nicht, ob er jemals einen lebendigen Glauben gehabt hat. Jetzt war er verzweifelt. Er hatte aufgegeben, suchte nicht mehr. Er klagte nur und fragte hin und wieder, warum mein Gott so viel persönliches Elend zuläßt.

Ich habe gelernt, daß Suchen nicht nur im Fragen-Stellen besteht. Gott Suchen und das Finden kann auch im Annehmen bestehen; so wie es der Psalmist ausdrückt: "Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil." (Psalm 73, 26). Egal, was kommt, auch wenn es unerträglich scheint; Gott ist in der Nähe! Nimm aus seiner Hand, was du nicht ändern kannst, und du wirst sehen: Er hat viel Trost für dich bereit.

Sicherlich gibt es einiges, was sich an dir ändern muß. Die Selbstsicherheit zum Beispiel hat es mir schwer gemacht, mein Schicksal in Gottes Hand zu legen. Schließlich kann ich was! Schließlich bin ich wer! Auch ihr, liebe Dietlinger, habt eure Barrieren, die euch von Gott abhalten: Da ist bei einigen - und es sind nicht wenige - der Streitgeist. Immer wollen sie recht behalten gegenüber ihren Nächsten. Bei anderen entdecke ich heimlichen Neid und versteckten Geiz: Sie lassen es zwar nicht nach außen dringen, aber sie sind wie besessen von materiellem Streben. Und wieder andere haben aufgehört, Gott zu suchen, weil sie meinen, sie hätten ihn bereits gefunden in ihrem Leben.

Meine Entdeckung im Krankenhaus: Auch wenn ihr meint, längst den rechten Glauben zu besitzen - Gott läßt sich immer wieder auf neue Weise finden und zeigt dadurch, daß auch fromme Wege Holzwege sein können.

Darum: Kehren wir um zum Herrn, der auf uns wartet!

Wie das vor sich gehen kann, fragt ihr?

Vielleicht, indem wir wieder einmal mit IHM sprechen. Zuhause im stillen Kämmerlein. Nimm dir doch heute noch eine Viertelstunde Zeit, ganz für dich allein, und spreche mit Gott. Jesus Christus hat uns zum Beten Mut gemacht; du kannst alles sagen, was dir zu schaffen macht, womit du nicht fertig wirst, und vergiß auch nicht einzugestehen, wo du selbst versagt hast, weil dein Glauben zu oberflächlich, zu aufgesetzt war.

Es wird nicht vergeblich sein. Gott will, daß sich unser Leben ändert. Gott will, daß uns der Glaube enger mit IHM verbindet. Gott will, daß wir fröhlich sind - nicht gerade ausgelassen, sondern im Innersten zufrieden, auch wenn uns familiäres und persönliches Leid überkommt. Gott will, daß allen Menschen geholfen wird. Dir und mir und den vielen draußen! Könnte er dabei nicht uns oft gebrauchen?!

Das Wort Gottes, gesprochen durch Propheten, geschrieben durch Evangelisten, in die Welt getragen durch Apostel - es ist nicht trockene Lehre, (auch wenn es manchem zuerst so vorkommt,) Gottes Wort bringt Hoffnung und Freude in unser Leben.

Das haben die Israeliten gespürt, als sie aus dem Exil zurückkehren durften; das haben die Jünger gespürt, als sie dem Auferstandenen begegneten. Das spüren wir heute, wenn wir uns unserem Gott anvertrauen.

"Darum sollt ihr in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken, und die Bäume auf dem Feld sollen mit den Händen klatschen."

Ein wunderbares Bild von Jesaja. Wer die Augen aufmacht, entdeckt, daß es für Christen im Glauben heute schon gilt. Aber erst recht dort, wohin wir nach dem Willen Gottes später gelangen sollen.

Daran glaube ich. Darauf hoffe ich. Darüber freue ich mich.