Altjahrsabend / 31. Dezember 1977 / Abschiedsgottesdienst
Pfarrer Traugott Wettach

  

Liebe Gemeinde,

wenn heute Nacht der zwölfte Glockenschlag verhallt sein wird, hat das neue Jahr bereits angefangen. Es geht weiter. Jeder von uns weiß das. Und mit unseren Gedanken und Plänen sind wir oft schon weit drin gewesen in diesem neuen Jahr - so, als hätten wir es in unserer Hand, zu unserer Verfügung. Dabei wissen wir noch nicht von einem Tag des neuen Jahres, was er bringen wird. Es geht weiter - aber wir wissen nicht, was kommt.

Es geht weiter. Mit den Jahren und mit der evangelischen Gemeinde in Dietlingen. Genausowenig, wie dieser 31. Dezember Endstation der Jahre ist, genausowenig ist dieser Abschiedsgottesdienst Endstation der Gemeinde Dietlingen. Die rechte Einstellung zu beidem, zum Jahresende und zum Dienstende, ist darum nicht das Traurigsein, sondern die gespannte Erwartung. Denn: Es geht weiter.

Aber: wir wissen nicht, was kommt. Und ich sage das nun nicht speziell im Blick auf einen Nachfolger. Sondern ganz umfassend meine ich das: das persönliche Leben und Ergehen jedes einzelnen von uns umfassend und die Zukunft der Kirchengemeinde und der christlichen Kirche insgesamt und der politischen Entwicklung in unserem Land und in aller Welt umfassend - wir wissen nicht, was kommt.

Es ist uns für heute als Predigttext ein Gotteswort aufgegeben, das ursprünglich genau in eine solche Situation hinein gesprochen ist:

  

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren. Ja, der Herr tröstet Zion, er tröstet alle ihre Trümmer und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten des Herrn, daß man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesang. Merkt auf mich, ihr Völker, und ihr Menschen, hört mir zu! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen werden wie Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.
Jesaja 51, Verse 1 - 6

 

Wir wissen nicht, was kommt. Auch Propheten wissen nicht, was kommt. Denn Propheten sind keine Wahrsager. Sie sitzen nicht in Silvesternächten Blei gießend oder Karten legend an Tischen mit Kerzenlicht und Sekt. Propheten sind keine Wahr-sager; sie sind Wahrheits-sager und als solche Zusager der künftigen Treue Gottes. Und genau darum geht es! Auch als Christen und Christengemeinden stehen wir in einer Reihe mit allen Menschen, die nicht wissen, was kommt. Wir sind nicht weitsichtiger als die anderen. Aber wir unterscheiden uns von den anderen, weil wir wissen, daß in allem, was kommt, Gott uns die Treue hält. Und das ist ein Unterschied, den man uns ruhig anmerken darf.

Glaubende soll man daran erkennen, daß sie als Getröstete vorbildlich zuversichtlich sind. Wir kennen die Zukunft nicht, aber wir kennen den, dem sie gehört. Und was hat man davon, wenn man den kennt? Das hat man davon, wenn man den kennt: man muß sich seine Chancen für eine gute Zukunft nicht mehr ausrechnen aufgrund seines eigenen Zustandes und seiner eigenen Kräfte.

"Der Herr tröstet Zion, er tröstet ihre Trümmer und macht aus Ruinen ein Paradies." Man muß die Umgebung dieser Sätze in der Bibel kennen, um ihre Tiefe ausloten zu können. Da sagt Gott zu seinem Volk glasklar: "Die Trümmer, über die ihr so todunglücklich seid, sind meine Quittung für euren Ungehorsam. Aber damit muß nicht alles ein- für allemal aussichtslos und auf ewig verdorben sein. Genauso klar wie eure Schuld ist meine gute Absicht mit euch. Auch das, was ihr durch eure Schuld angerichtet habt, kann mich nicht davon abhalten, euch eine gute Zukunft zu schaffen. Meine Treue ist stärker als eure Untreue."

Ganz konkret: wir sehen heute abend, wenn wir auf dieses Jahr und auf diese Jahre zurückblicken, auch manches, was durch unsere Schuld in Trümmern liegt, ruiniert ist. Aber das müssen wir nicht als belastende Hypothek mitnehmen ins neue Jahr hinein. Gott will Trümmer trösten. Das heißt, er will denen, die merken, was sie angerichtet haben, vergeben und ihnen so eine neue gute Zukunft eröffnen. Das wollen wir uns morgen früh im Abendmahl von ihm nocheinmal handgreiflich geben und in die Hand hinein versprechen lassen: bei Gott ist eine gute Zukunft für uns nie ausgeschlossen, nicht im kleinen Bereich unseres persönlichen, familiären und gemeindlichen Lebens und nicht im großen Bereich der Geschichte unseres Volkes und der ganzen Welt.

Als Getröstete vorbildlich zuversichtlich! Noch einen zweiten Anlauf unternimmt Gott, um das zu erreichen: "Schaut auf euren Vater Abraham! Als einzelnen berief ich ihn und segnete ihn und ließ viele aus ihm werden." "Was soll ich da als einzelner tun?" So fragen wir oft resignierend. Und: "Was soll aus der Gemeinde Jesu werden, wenn die Zahlen immer kleiner werden?" - "Nicht an der Zahl liegt´s", wird hier gesagt; sondern am Segen Gottes. Mehrung, Wachstum, Gedeihen und Gelingen ist immer an Gottes Segen gelegen. Damit sind wir nicht zur Untätigkeit verdammt oder zum Leichtsinn eingeladen. "Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand; der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf." Das gilt nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für alles, was wir tun. Unser Pflügen und Streuen ist nötig. Aber das Entscheidende muß ein anderer tun. Deshalb brauchen wir auch nicht zu erschrecken, wenn unsere Kraft oder unsere Zahl klein ist. Wenn wir auf den Segen Gottes alle unsere Hoffnung setzen, dann können wir angesichts der uns unbekannten Zukunft als Getröstete vorbildlich zuversichtlich sein.

Nun sollen wir aber als Glaubende nicht nur mit uns selber beschäftigt bleiben. Es werden uns hier zwei wichtige Aufgaben angewiesen, indem uns für zwei Sorten von Menschen die Augen geöffnet werden: für die Suchenden und die Außenstehenden.

Die Suchenden sind für die Gemeinde wichtige und unverzichtbare Menschen. Sie helfen uns, für die Probleme unserer Zeit offen und für die Fragen der Menschen unserer Zeit hellhörig zu bleiben. Sie bewahren uns davor, in ein selbstgenügsames frommes Fertigsein zu verfallen. "Hört mir zu, die ihr Gott sucht!" Die Suchenden brauchen Gott und sein Wort. Und wir sind ihnen das Wort Gottes schuldig. Und wir sind es ihnen so schuldig, daß sie es verstehen. Wer weiß, mit welchem Aufwand Missionare die Sprache eines zentralafrikanischen Volkes oder eines australischen Stammes erlernt haben, bevor sie anfingen zu predigen, der kann sich nur wundern, wie wenig Energie viele Christen darauf verwenden, zum Beispiel die Sprache unserer Jugend zu erlernen. "Die wollen uns nicht hören", sagt man und bedenkt gar nicht, daß die uns vielleicht gar nicht verstehen. Von keinem Asiaten verlangen wir, daß er erst deutsch lernt, bevor wir ihm das Evangelium verkünden. Ich glaube, wir dürfen auch von keinem jungen Menschen verlangen, daß er erst kirchisch lernt, bevor wir ihm das Wort Gottes sagen. Und es sind nicht nur die Jungen, die kirchisch nicht mehr verstehen. Ich glaube, wir müssen es lernen, diese suchenden und fragenden Menschen als Glieder der Gemeinde zu sehen, die nur noch darauf warten, daß sie auch etwas verstehen von dem, was wir sagen; die nur noch darauf warten, daß wenigstens ab und zu das Wort Gottes auch in ihre Sprache übersetzt wird.

Die Außenstehenden, die weit entfernt sind von Gott und Gottesdienst, sollen wir nicht als Glieder der Gemeinde ansehen; denn sie sind es nicht. Aber wir sollen sie sehen als Menschen, die von der Liebe Gottes mitumschlossen sind. Damals, als der Prophet die Worte unseres Predigtextes sprach, hat Gott angefangen, seinem Volk den Blick zu weiten und neue Horizonte zu eröffnen. Er hat sie gelehrt, daß bei denen ganz draußen eine große Sehnsucht nach Gott ist und daß er, Gott, gewillt ist, diese Sehnsucht zu stillen. Wir können diesen erweiterten Blick für die umfassende Liebe Gottes bekommen, wenn wir Gottes Wort ernst nehmen. Dann würde auch unser Reden über die draußen - und ich meine jetzt nicht die in Afrika oder Asien -, dann würde auch unser Reden über die draußen anders ausfallen. Auch über die, die in ihrer Gottlosigkeit zu erschreckender Brutalität bereit sind. Dann würden wir vielleicht sogar sehen, daß in manchem, was uns arg erschreckt, sich doch noch andeutungsweise, wenn auch verzerrt, die Sehnsucht zeigt nach einem Leben, das sich wirklich zu leben lohnt. Die Tatsache, daß Gott auch die ganz weit Entfernten nicht aufgegeben hat, ist für uns Aufgabe. Eine Aufgabe, die viel Phantasie und Kraft erfordert und viel Bereitschaft, mißverstanden, verdächtigt und gescholten zu werden.

Ich breche hier ab. Dreierlei wollte ich Euch aufgrund dieses Gotteswortes noch einmal ans Herz legen:

1. Bleibt im Glauben an die Treue Gottes, dann werdet ihr als Getröstete vorbildlich zuversichtlich sein im Blick auf die Zukunft, die ihr nicht kennt.

2. Stoßt die Suchenden nicht ab. Seht sie als Gemeindeglieder, denen ihr vom Wort Gottes her eine verständliche Antwort auf ihre Fragen schuldig seid.

3. Lernt die Außenstehenden und Fernen sehen als Menschen, die von derselben Liebe Gottes mitumschlossen sind, und wißt, daß sie sich danach sehnen, daß ihr ihnen diese Liebe Gottes verkündigt und bringt.