Palmarum / 23. März 1975 / Konfirmation
Pfarrer Traugott Wettach

  

Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der nüchternen Besonnenheit.
2. Timotheus 1, Vers 7

 

Liebe Gemeinde!

Heute werden 34 Mädchen und Jungen konfirmiert, die zu unterrichten nicht eine Stunde ein mühsames Geschäft war. Erlauben Sie diese persönliche Bemerkung am Anfang dieser Predigt. Liebe Konfirmanden! Wir haben viele schöne Stunden miteinander verbracht. Und es ist einem nicht gleichgültig, was aus Menschen wird, mit denen man fast ein Jahr lang eine so erfreuliche Gemeinschaft erlebt hat. Lange habe ich mir deshalb überlegt, was ich Euch heute zum Abschluß Eurer Konfirmandenzeit sagen soll für Euer weiteres Leben als Christen. Mein größter Wunsch ist, daß Ihr nicht angesteckt werdet von der Krankheit, die in der letzten Zeit immer mehr Menschen befällt. Die Anzeichen dieser Krankheit, ihre Symptome, sind Angst, Verzagtheit, Schwarzmalerei, Resignation, Pessimismus. Es ist dies eine Krankheit, für die Christen zu allen Zeiten mehr oder weniger anfällig waren. Unverständlicherweise - denn Gott hat uns eine wirksame Arznei dagegen gegeben: seinen Geist. Der Apostel Paulus hat das in seinem zweiten Brief an seinen jungen Freund und Mitarbeiter Timotheus so formuliert: "Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der nüchternen Besonnenheit."

Darüber wollen wir in den nächsten Minuten miteinander nachdenken. Das sollt Ihr Euch gesagt sein lassen für Euer weiteres Leben als Christen! Das Erste: "Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft." Was das heißt, will ich zunächst denen unter Euch erklären, die etwas von Fußball verstehen. Ich habe das schon oft gehört, aber gestern ist es mir besonders aufgefallen, wie begeistert der Reporter war von der "offensiven" Spielweise eines Bundesligavereins. Mutig nach vorne gehen, etwas wagen, sein Spiel spielen und sich nicht vom Gegner das Spiel diktieren lassen - nur so kann man siegen. Offensives Christsein, das meint der Paulus, wenn er schreibt: "Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft." Was wir heute weithin sehen und was immer mehr um sich zu greifen scheint, ist das genaue Gegenteil davon: die Christen und die Kirche haben sich in die Defensive drängen lassen. Es wird nur noch verteidigt. Kaum einer geht mehr vor. Kaum einer wagt mehr etwas. Wir lassen uns vom Gegner das Spiel diktieren, statt unser Spiel zu machen. Dabei hätten wir doch die Kraft dazu! Gott selber hat sie uns gegeben, die Kraft zu einem offensiven Christsein, dem am Ende der Sieg gehört. Wir brauchen keine Angst zu haben. Keine Angst vor dem Gegner: er ist bereits besiegt. Erst recht nicht Angst vor dem rechthaberischen und dummen Geschwätz der Zuschauer; wer nicht mitspielt, hat auch nichts dreinzureden. Keine Angst auch davor, daß wir einmal zu weit vor und ins Abseits laufen. Gott pfeift uns schon rechtzeitig zurück. "Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft." Zu offensivem Christsein sind wir ausgestattet. Und ich hoffe, daß auch die, die nichts vom Fußball verstehen, kapiert haben, um was es dabei geht, was damit gemeint ist. Eines aber muß ich noch anfügen, was nicht gemeint ist. Nicht gemeint ist ein Christsein in überlegener Selbstsicherheit. Gott hat uns den Geist der Kraft gegeben. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß wir zuzeiten mehr Fragen als Antworten haben. Im Gegenteil: gerade darin beweist der Geist, der uns gegeben ist, seine Kraft, daß er das Fragen, die Unsicherheit, das Suchen erlaubt, aushält, verkraftet.

Das Zweite: "Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe." Der Geist der Kraft ist uns nicht gegeben zu glanzvollen Einzelparaden, sondern er ist uns gegeben als Gliedern der Gemeinde Jesu Christi. Wir müssen hier den Vergleich mit dem Fußball verlassen. Hier geht es um mehr. Der Geist der Liebe ist etwas anderes als der oft gepriesene Mannschaftsgeist. Mannschaftsgeist zu haben, dazu kann ich mich aus guten Gründen entscheiden. Der Geist der Liebe muß uns von Gott geschenkt werden. Wir können jetzt nicht eingehen auf all das, was die Bibel über die Liebe sagt. Ihr müßtet sonst auf das Mittagessen und den Kaffee verzichten und könntet gleich für den Abend dableiben. Aber auffallen sollte uns und zu denken geben diese Gegenüberstellung: Geist der Ängstlichkeit - Geist der Liebe. Warum ist der Geist der Liebe das Gegenteil vom Geist der Ängstlichkeit? Weil Angst immer dort hochkommt, wo die Liebe fehlt. Angst ist ein Zeichen dafür, daß ein Mensch sich alleingelassen fühlt, daß ihm Geborgenheit fehlt. Wer dagegen jemanden hat, der ihn liebt, der braucht keine Angst zu haben. Und genau dazu hat Jesus seine Gemeinde erfunden: daß jeder jemand hat, der ihn liebt. Gott liebt uns - gewiß! Aber es reicht nicht, wenn wir wissen, daß Gott uns liebt. Jeder Mensch braucht das, daß er von einem Menschen geliebt wird. Und weil Gott das weiß, darum hat er uns den Geist der Liebe gegeben. Und wenn wir den Geist der Ängstlichkeit in der Gemeinde auf dem Vormarsch sehen, dann ist das ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Geist der Liebe auf dem Rückzug ist. Und es ist nicht mehr länger verwunderlich, daß so wenig offensives Christsein zu finden ist. Wo die Liebe fehlt, zieht die lähmende Angst ein. Wo ist bei uns, in unseren Gemeinden, der Geist der Liebe? Antwort des Paulus: "Gott hat ihn uns gegeben." Davon können wir ausgehen. Und es kommt jetzt nur darauf an, daß wir den Geist der Liebe wirken lassen in unserer Gemeinde. Es wird von der Kirche viel erwartet heute. Aber wir werden alle diese Erwartungen enttäuschen müssen, wenn nicht der Geist der Liebe uns beherrscht. Wir müssen endlich wieder lernen, daß nicht die Geschäftigkeit, sondern der Geist der Liebe die Lebendigkeit der Kirche ausmacht. Vielleicht stehen unsere Gottesdienstformen und die Art und Weise, wie wir das Abendmahl feiern, dem Wirken des Geistes der Liebe im Weg. Wir haben uns auf unserer Freizeit viel Zeit gelassen für das Gespräch miteinander und für das fröhliche Spiel. Und unser Abendmahl haben wir gefeiert im Zusammenhang mit einer richtigen Mahlzeit. Ob das die richtige Lösung für die ganze Gemeinde wäre: Gespräch, Spiel, gemeinsame Mahlzeiten, weiß ich nicht. Aber ich glaube, daß der Geist der Liebe sich bei uns zuerst äußern wird als Geist der Phantasie für neue Formen von Gemeindesein, so daß unsere Gemeinde wieder der Ort wird, wo jeder sich geborgen und verstanden und akzeptiert weiß - so wie er ist; wo jeder sich geliebt weiß, von Menschen geliebt weiß, und deshalb seine Angst aufgeben und wieder offensiv Christ sein kann. Ein Problem allerdings könnte auftauchen, wenn wirklich der Geist der Liebe unter uns beherrschend würde: unsere Räume würden sich als zu klein erweisen. Denn Menschen, die sich lieben, werden zusammensein wollen, so oft es nur irgend geht. Aber wir könnten dieses Problem so lösen, wie die ersten Christen es gelöst haben: Sie trafen sich hin und her in den Häusern. Größere Räume wären also nicht nötig. Denn nicht die Masse macht´s, sondern die Liebe.

Das Dritte: "Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der nüchternen Besonnenheit." Der Geist der Kraft macht nicht rücksichtslos gegenüber dem Mitchristen, sondern äußert sich ihm gegenüber als Geist der Liebe. Und der Geist der Kraft treibt nicht die Christen mit dem Kopf durch die Wand, sondern äußert sich in nüchterner Besonnenheit im alltäglichen Leben. Martin Luther hat hier übersetzt "Geist der Zucht". Mancher wird diese Übersetzung vermissen. "Zucht und Ordnung" hält manch einer auch heute noch für das Allheilmittel gegen alle Schäden dieser Welt. Ich glaube nicht, daß dieses Denken aus dem Geist der Liebe geboren ist. "Den Geist nüchterner Besonnenheit" hat Gott uns gegeben zur Lösung der Probleme unserer Welt. Den gesunden Geist, ohne Illusionen abzuwägen, was zweckmäßig ist und was nicht. Den wachen Sinn, die Lage und Vorgänge unseres persönlichen Lebens wie unseres Volkes und unserer Welt nüchtern zu beurteilen. Gott hat uns nicht den Geist der Ängstlichkeit gegeben, so daß wir vorschnell beurteilen und handeln müßten oder uns vor jeder Entscheidung und Mitverantwortung im öffentlichen Leben drücken dürften. Sondern er hat uns den Geist der nüchternen Besonnenheit gegeben. Und darum sind wir unserem Mitmenschen im Beruf, in der Öffentlichkeit, in der Politik den Dienst nüchterner Besonnenheit schuldig. Dazu hält Gott sich seine Christen in der Welt.

Liebe Konfirmanden! Mancher mag lächeln darüber oder es als einen Vorgang reiner Konvention und Tradition ansehen, wenn Ihr heute JA sagt zum Glauben. Laßt Euch davon nicht irritieren. Gott selber gibt Euch heute die Kraft zu einem offensiven Christsein. Ihr seid beauftragt, den Geist der Liebe, den er Euch schenkt, in unsere Gemeinde hineinzutragen und so Raum für Geborgenheit und gegenseitiges Sichverstehen zu schaffen. Ausgestattet mit seinem Geist nüchterner Besonnenheit sendet Gott Euch an die Aufgaben der Öffentlichkeit, des Staates und der Gesellschaft. Vielleicht seid Ihr jetzt ein wenig erschrocken, was für ein umfassendes Programm der Glaube ist. Aber Gott nimmt Euch Euer Erschrecken, Eure Angst und - wenn´s der Fall wäre - auch Eure Feigheit und gibt Euch dafür durch seinen Heiligen Geist Kraft und Liebe und nüchterne Besonnenheit. Deshalb könnt Ihr ihn getrost und mutig bitten: "Laß mich an dich glauben, wie Abraham und Daniel und Simeon und Stefanus es tat; was kann dem geschehen, der solchen Glauben hat." Ich habe dieses Lied auf der Freizeit von Euch gelernt. Wir wollen es als Schluß dieser Predigt singen.