Kantate / 12. Mai 1968 / Kirchenvisitation
Dekan Otto Braun

  

Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien. Ihr sollt wissen, meine lieben Brüder: ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. Denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist. Darum legt ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmt das Wort an mit Sanftmut, das in euch gepflanzt ist und Kraft hat, eure Seelen selig zu machen.
Jakobus 1, Verse 17 - 21

 

Liebe Gemeinde!

Wenn der Kapitän eines Schiffes beim Rundgang auf die Kommandobrücke kommt, fragt er wohl den Steuermann: "Was liegt an?" "1200 Strich, Herr Kapitän", ist etwa die Antwort. Der Kapitän blickt auf den Kompaß, wo die Kursnadel an der Strichzahl anliegt, die den Kurs des Schiffes bestimmt. Immer, wenn sie sich von der befohlenen Richtung entfernt, wenn Wind und Strömungen das Schiff vom rechten Kurs abzubringen drohen, muß der Steuermann durchs Steuerrad den Kurs korrigieren. Ständig muß er mit gespannter Aufmerksamkeit prüfen: Liegen wir richtig?

Wenn alle sechs Jahre ein Vertreter der Kirchenleitung wie heute unser Herr Oberkirchenrat Hamann mit dem Visitationsausschuß zur Kirchenvisitation in die Gemeinde kommt, dann ist das zunächst ein Besuch zur brüderlichen Stärkung im gemeinsamen Glauben. Zugleich aber ist es für die Gemeinde ein Anlaß, sich zu prüfen: Liegen wir richtig? Stimmt unser Kurs?

Der Kompaß, nach dem sich unser Kurs zu richten hat, ist uns gegeben in dem lebendigen Wort Gottes. Nur dieser Kompaß rettet uns vor der Irrfahrt ohne Ziel, die im Schiffbruch endet. - Von einem Ozeanflieger, - ich meine Hünefeld war es, - der den Atlantik zum ersten Mal in West-Ost-Richtung überquerte, las ich, wie er in Nacht und Wolken, zwischen Unwettern hindurch, von Windböen geschüttelt, sich allein an seinen Kompaß halten konnte. Ohne jede Sicht erreichte er allein mit Hilfe seines Kompaß die rettende Küste Englands.

Gottes Wort ist unser Kompaß, das einzige rettende Mittel zur Orientierung in einer stürmischen, dunklen Welt. Es ist das rettende Wort der Ewigkeit. Und wenn wir heute, am Sonntag Jubilate dankbar das Loblied der Kirche anstimmen und uns über den Schatz unserer geistlichen Lieder - der alten und neuen - freuen, dann ist uns klar: Sie fließen alle aus der Quelle des ewigen, lebendigen Gotteswortes und singen uns seine Botschaft ins Herz. Und wenn am heutigen Muttertag mancher ein Wort an die Mütter erwartet, dann kann es nur das wegweisende Wort, das Kraft- und Trostwort aus der Bibel sein, das wir ihnen zu sagen haben. Darum stellen wir heute dieses eine in die Mitte: Das rettende Wort, das Gotteswort. Das ist die Mitte auch unseres Abschnitts aus dem Jakobusbrief und es sagt uns: Dies Wort ist die kostbarste Gottesgabe. Darum: Nimm es bereitwillig auf!

I. Gottes Wort, die kostbarste Gottesgabe. Gott ist der Geber! - Schade, daß wir in der Regel, wenn wir von Gott hören, sofort an einen Aufseher und Aufpasser denken und ein wenig zusammenfahren, wie ein Autofahrer, wenn er einen Polizisten sieht - weil er denen gegenüber doch nie ein ganz reines Gewissen hat. - Jesus wollte uns Gott anders zeigen. Und auch der Jakobusbrief zeigte ihn anders. Er ist doch zuallererst der Wohltäter, wie ein Vater, der gleichsam für seine Kinder immer die Taschen voller Gutsel hat. "Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem es keine Veränderung gibt, kein Wechsel zwischen Licht und Finsternis", so lasen wir. Er hat keine Launen. Es ist mir unvergeßlich, wie unser großer theologischer Lehrer Adolf Schlatter in Tübingen einmal wie beiläufig den schlichten, fundamentalen Satz aussprach: "Jesus verkündigt den gebenden Gott", nicht den fordernden, den befehlenden, strafenden, den er wohl kennt!

Was schenkt er uns? Vor allem einmal: Unser Leben! "Er hat uns geboren - so übersetzen wir genau - nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit". Und an jedem frischen Morgen, an dem wir gesund aufstehen dürfen, muß es unser Loblied sein: "Der unser Leben, das er uns gegeben, in dieser Nacht so väterlich bedecket und aus dem Schlaf uns fröhlich auferwecket. Lobet den Herren!"

Aber das ist noch zu wenig. Denn mit jedem neuen Morgen wachen ja auch alle unsere Lasten, Sorgen, Schmerzen und die unbewältigten Aufgaben und das schlechte Gewissen wieder mit uns auf. Und weil die uns anhängen, darum brauchen wir mehr als nur dieses irdische Leben und Gesundheit: Nämlich das neue Herz, das neue Leben, das alle diese Nöte überwinden kann. Von diesem neuen Leben redet das Wort hier: "Er hat uns geboren - durch das Wort der Wahrheit!" Er hat uns die neue Geburt geschenkt, er hat uns durch sein Wort das neue, göttliche Leben ins Herz gepflanzt.

Hier stoßen wir auf die entscheidende Stelle in unserem Text, auf die es ankommt: "Durch das Wort der Wahrheit". Das ist das rettende, helfende Wort. - Wenn ein Mensch, der jahrelang vom Rheuma geplagt, mühsam am Stock ging, auf einmal wieder flott und elastisch einherschreitet, dann fragen ihn seine Bekannten: Was hat dir geholfen? Was ist das Heilmittel, wo ist die Heilquelle, die wirklich hilft? Das ist für uns die entscheidende Frage: Wo finde ich das Heilmittel für mein heilloses Leben? Unser Wort weist uns die Lebensquelle: In dem "Wort der Wahrheit"; und diese Wahrheit heißt: Jesus Christus: Das Wort von Jesus, das ist das Wort der Wahrheit, das rettende Wort.

Das schenkt uns das Gottesleben. Wie soll ich mir das vorstellen? Versuchen wir es mit einem Bild zu sagen. Das Wort stellt die Verbindung her mit dem Vater. Es ist der "heiße Draht", wie jene direkte Telefonverbindung zwischen den mächtigen Hauptstädten Washington und Moskau. Durch diesen Draht gehen die weltentscheidenden Gespräche, werden Konflikte überwunden. Hier werden Sünden vergeben und unsere Fehlentscheidungen korrigiert. - Zugleich ist das Wort die Starkstromleitung, durch die Gottes Kraft, sein Geist, seine Liebe in unser schwaches Herz strömt.

II. Darum - weil dieses Wort so entscheidende Funktion hat - darum nimm es bereitwillig auf! - "Sei schnell zu hören" - mahnt der Jakobusbrief. - Zuhören, das ist nicht unsere Stärke! Bei uns ist der Mund meistens schneller offen als die Ohren! Wie oft hören die Kinder nur mit halbem Ohr hin, wenn die Mutter etwas aufträgt. Gottes Wort kennt uns. Darum sagt es hier: "Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam aber zum Reden und langsam zum Zorn."

Es ging schon zu des Jakobus Zeiten so - Schlatter schildert es in seiner Auslegung: Kaum hatte Jakobus in der Synagoge das Wort der Wahrheit gesagt, da erhob sich sofort eine heftige Disputation über das Wort, die Meinungen prallten aufeinander - und das Wort blieb ungehört! In der Apostelgeschichte können wir es lesen; Paulus ging es so: "Sie widersprachen und lästerten". Und dabei erhitzten sich die Gemüter, es gab blutige Köpfe - Paulus trug manche Narben von solchem Aufruhr an seinem Leibe. Zum Wortwechsel kam der Zorn; und "des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist!"

Merken wir, wie aktuell diese Schilderung ist? Von der Berliner Gedächtniskirche bis in unser Land? "Wir wollen disputieren", klingt es unter der Kanzel. Wird so das Wort noch gehört? - Schnell zum Reden, das ist unsere Natur. - Was für ein Körnchen Wahrheit darin stecken mag, davon werden wir nachher hören. - Warum sind wir aber so langsam zum Hören? Der tiefste Grund ist der: Man will sich nichts sagen lassen. Man will seine Meinung nicht ändern, sein Leben nicht anders machen lassen! "Das habe ich nicht nötig", so denkt unser unbußfertiges Herz.

Aber das ist deshalb so schlimm, weil Hören der einzige Weg ist zur Hilfe. - Darum hat Jesus immer wieder in heißer Sorge laut gerufen: "Wer Ohren hat, zu hören, der höre!" Genau so ruft Jakobus: "Nehmt das Wort an mit Sanftmut, welches kann eure Seelen selig machen; es kann allein euch retten".

Es ist oft erschütternd, ja direkt tragisch, wie gerade junge Menschen sich ärgerlich, ja erbittert wehren gegen die guten, liebevoll gegebenen Ratschläge, die ihnen an entscheidenden Stellen wirklich helfen könnten. Eltern und Lehrer können uns davon erzählen. Aber - auf wen hören wir eigentlich? Hörst du auf deine Frau nach dem bekannten Sprüchlein: Hör auf deine Frau, fahr vorsichtig? Und du, Frau, hörst du auf deinen Mann, wenn er abends heimkommt und etwas auf dem Herzen hat, oder überschüttest du ihn gleich mit deinen Reden? "Schnell zum Hören, langsam aber zum Reden" - schon im Zusammenleben untereinander eine unersetzliche Lebensregel!

Aber ganz ernst ist´s beim Hören auf das Gotteswort! Wir müssen es wieder ganz neu lernen - daheim mit der Bibellese, mit dem Losungsbüchlein und hier im Gotteshaus! Hier heißt es erst recht: "Schnell zum Hören, langsam aber zum Reden". Darum brauchen wir hier in der Kirche die Stille unter dem Wort - ohne Diskussion!

Aber nun ist doch ein Körnchen Wahrheit in dem Wunsch nach einem Gespräch über das Wort! Sollten wir etwa die Predigt über uns ergehen lassen, daß sie von uns abläuft wie das Wasser von der Ente? - Nein! Sie soll doch in uns hineingehen. Sie weckt doch eine Antwort! Gott erwartet unsere Antwort! Nicht im schnellen Reden, sondern im stillen Aufnehmen ohne Widerspruch - "mit Sanftmut" - im ernsthaften Bedenken und Fragen und im dankbaren Vertrauen. "Langsam aber zum Reden" - mit einem wohlbedachten, aufrichtigen "JA". So liegen wir richtig. Mitten in einer Welt, die widerhallt von Streitgesprächen und Kampfgeschrei fangen wir wieder an, mit offenem Sinn und Ohr das Wort aufzunehmen und unser Gebet ist: "Herr, mach uns still und rede Du!"