Rogate / 26. Mai 1957 / Kirchenvisitation
Dekan D. Friedrich Hauß

  

Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir´s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.
Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.
Kolosser 3, Verse 1 - 6

 

Das Beten ist ein seltsames Werk, sagt Luther einmal. Er will damit sagen, daß das rechte Beten sehr selten ist. Es betet niemand, es treibe ihn denn die höchste Not. Erst, wenn der Mensch in seiner Not alle Türen menschlicher Möglichkeiten abgelaufen ist - und wieviele menschliche Möglichkeiten gibt es heute in der Welt der Erfindungen und Entdeckungen, im heutigen Wohlfahrtsstaat - und hat nirgends Hilfe und Rat gefunden, dann ist er allenfalls bereit, an Gottes Tür anzuklopfen. Aber es ist dann noch eine große Frage, ob er solange anklopft, bis ihm aufgetan wird, ob er nicht vorher ungeduldig und ungläubig davonläuft.

Der selbstherrliche Mensch von heute schämt sich auch zu beten. Leute, die an den Straßenecken beten, damit sie von den Menschen gesehen werden, wie Jesus in unserem heutigen Textwort sagt, gibt es heute nicht mehr. Der Mensch hat sich ja selbst zum Gott gemacht und erwartet im Grunde genommen die Hilfe von seinen eigenen Aktionen. Darum beten gerade die aktiven Männer am wenigsten. Der Baron von Kottwitz begegnete zur Zeit der Napoleonischen Kriege, als Preußen am Boden lag und in Berlin eine ungeheure Not war, dem Philosophen Fichte. Kottwitz war ein leuchtender Christ, der von der Jesussonne ein strahlendes Licht empfing, wie sie alle hundert Jahre vielleicht zwei oder dreimal einem gesegneten Volk geschenkt werden. Er hatte einen großen Teil seines beträchtlichen Vermögens an die Hunger leidenden Weber seiner schlesischen Heimat verwendet, um ihnen aufzuhelfen, und nun kam er in das notleidende Berlin, wo es um diese Zeit Hunderte von Obdachlosen und Nahrungslose gab, denen niemand half. Er hatte von dem französischen Kommandanten eine Kaserne zur Verfügung gestellt bekommen, in der er 800 Leute aufnahm, für die er täglich zu sorgen hatte. Der Philosoph sprach: "Herr Baron, das Kind betet, der Mann will". Kottwitz gab zur Antwort: "Wie soll ich täglich für 800 Leute sorgen, wenn ich nicht beten könnte!" Fichte bekam Tränen in die Augen und sagte: "Beten sie nur immer weiter!" Wer ist ein Mann? Wer beten kann und Gott dem Herrn vertraut. Wenn alles bricht, er zaget nicht, dem Frommen nimmer graut. Wo sind unter uns Männer, die nicht zagen, wenn alles bricht, weil sie beten können?

Beten ist heute noch seltener als früher, weil bei den meisten Menschen die Telefonleitung zu Gott hin zerrissen ist. Es kommt kein Anruf Gottes mehr bei ihnen an. Darum können sie auch nicht mehr mit Gott reden. Bei allen, die sich des Kirchgangs und des Wortes Gottes entwöhnt haben, kommt kein Anruf Gottes mehr an. Ebenso ist es bei denen, die in Unversöhnlichkeit mit ihren Mitmenschen leben. Wenn ihr den Menschen nicht vergebet ihre Fehler, wird euch euer himmlischer Vater eure Fehler auch nicht vergeben. Bei denen, die bewußt in Sünden leben, in Ehebruch, Unreinheit und allerlei Abgötterei, die ihnen lieber ist als Gott, kommt kein Anruf Gottes mehr an. Auch bei denen, die von ihrem Abgott so völlig beschlagnahmt sind, daß sie keine Zeit mehr haben für Gott, ist es so. Die Verbindung mit Gott ist zerstört, darum können sie nicht mehr erhörlich beten. Heute ist Visitation. Wir werden von der großen Kirche besucht, um geprüft zu werden, ob wir eine betende Gemeinde sind oder ob bei uns das Beten auch ganz "seltsam" ist.

Unser Beten braucht den rechten Ausgangspunkt und das rechte Ziel! Herr lehre uns beten! Es muß aus der Stille kommen. Wenn du betest, so geh in dein Kämmerlein und schließe die Tür hinter dir zu, spricht der Herr in seinem Wort. Der heutige Mensch ist ein Massenmensch, er wird von der Straße geprägt. Seine Seele hat kein Zuhause. Wie ist es bei dir? Oft muß Gott dich gewaltsam ins Kämmerlein zwingen durch Schlaflosigkeit, durch eine schwere Erkrankung, durch das Sterben deiner Lieben. Hast du es gemerkt, daß dich Gott in die Stille führen will, um mit dir zu reden? Ein rechtes Gebet kommt aus der Tiefe. Während die heidnischen Schiffsleute beteten, schlief der ungehorsame Prophet Jona im Schiff. Erst im Bauch des Fisches in der Tiefe, da schrie er zu seinem Gott. Es gibt sehr hartnäckige Leute, die nicht einmal die Stürme des Lebens zum Beten bringen. Erst in einer ausweglosen Not suchen sie Gott, um dann die Entdeckung zu machen, daß die Tür zu ihm verschlossen ist. Ein schwerverwundeter Soldat meiner Gemeinde schrieb mir aus dem Lazarett, er liege da in seinen Schmerzen und es fielen ihm alle seine Sünden ein. Ich wies ihn in meinem Antwortbrief auf Jesus Christus hin, der am Kreuz alle unsere Sünden vollkommen bezahlt hat und riet ihm, den Namen Jesu anzurufen, dann finde er den Zugang zum Vater. Und er hat ihn gefunden. Ein Gebet, das erhört wird, muß im Namen Jesu, in dem wir den Zugang zum Vater und die Gotteskindschaft haben, gebetet werden. Ich sah ein holzgeschnitztes Altarbild. In der Mitte hatte der moderne Künstler den segnenden Herrn Jesus stehen. Zu seinen beiden Seiten waren je drei betende Gruppen notleidender Menschen. Über diesen Gruppen hatte der Künstler die Hände des Heilands gebildet. Wie ein Schutzdach umgaben sie die Beter, wie ein Halt hielten sie sie fest, wie Retterhände zogen sie sie nach oben. Wie tröstende Hände wischten sie ihnen die Tränen von den Augen. Wie spendende Hände gaben sie ihnen die irdische Notdurft. Wie liebende Hände schenkten sie ihnen Vergebung der Schuld. Beim näheren Betrachten wurde es mir deutlich: Es sind die sieben Bitten des Vaterunsers, die hier in diesem Kunstwerk dargestellt sind. Es ist in diesem Kunstwerk in wunderbarer Weise deutlich gemacht, was es heißt, im Namen Jesu beten. Er, der ewige Fürsprecher beim Vater, betet für uns, wie er einst für den Petrus gebeten hat: Simon, ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Nur im Namen Jesu können wir beten: Unser Vater in dem Himmel.

Damit hat das erhörliche Gebet das rechte Ziel gefunden. Das sind nicht die Menschen, vor denen man mit seinem Gebet Eindruck machen will, es ist nicht das eigene Ich, zu dem man betet wie der Pharisäer, der stand und betete bei (zu) sich selbst. Es ist der Vater im Himmel, zu dem das Gotteskind betet. Du kannst es sehen an der heiligen Rangordnung des Vaterunsers, ob dein Gebet recht getan ist, ob das Ziel des Betens der Dank an den Vater und sein Lobpreis ist, ob du zuerst darum bittest, daß die Herrschaft Gottes zu dir und den anderen komme, daß sein Wille auch von dir erkannt werde und bei dir und andern geschehe, und dann daß dir in allen Leibes- und Seelennöten, in allen Versuchungen und Anfechtungen geholfen werde bis zur Erlösung von allem Übel. Das Ziel eines betenden Gotteskindes ist unser Vater. Es betet als Glied der Gemeinde Jesu immer für die Brüder und Schwestern mit. Und wie der Wind bei der Orgel durch alle Pfeifen bläst und ihre Töne brausend zusammenklingen zu einem Lied, so strömt der Heilige Geist durch die Herzen der Gotteskinder, daß sie einmütig miteinander den Herren anbeten und rufen mit einem Munde: Unser Vater in dem Himmel!