25. Oktober 1936 / Kirchenvisitation
Kirchenrat Friedrich Horr

  

Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, daß sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.
Johannes 15, Verse 1 - 8

 

Die Predigt des Herrn ist reich an hohen und herrlichen Gedanken. Wie die Gipfel der Berge ragen sie empor. Aber schließlich sammeln sie sich um zwei Brennpunkte. Zwei Mahnungen hören wir aus den Worten des Herrn heraus: Kommet zu mir und bleibet bei mir. Es ist selbstverständlich, daß die erste Mahnung aus dem Munde des Herrn erklang, da er seine heilige Laufbahn begann und die zweite, als sein Werk hinieden zu Ende ging. Diese Mahnung zum Kommen und Bleiben können wir dann aber wieder so deuten, daß wir sagen: Jesu richtet die Lebensgemeinschaft zwischen ihm und uns auf. Er will in uns leben, wir sollen mit ihm leben, wie es Paulus auch von sich bezeugt. Von dieser heiligen Lebensgemeinschaft mit Jesu ist im heutigen Text besonders die Rede. Auf den heutigen Sonntag fällt nun auch die alle 6 Jahre wiederkehrende Kirchenvisitation. Wir grüßen in unserem Gottesdienst Herrn Oberkirchenrat Rost, der im Auftrag des Landesbischofs zu uns gekommen ist und danken ihm für sein Kommen und schließen seine beiden anderen Begleiter in den Gruß mit ein.

Zum heutigen Tag könnten wir nun kein passenderes Textwort haben als das vorliegende und keine andere Frage kann und darf uns heute beschäftigen als die Frage nach der Lebensgemeinschaft mit Jesus.

Es ist kein Zweifel, von sich aus hat der Herr diese Lebensgemeinschaft auch mit uns aufgerichtet, mit uns allen. So gewiß wir alle getauft sind, so gewiß ist diese Lebensgemeinschaft von Jesus her mit uns aufgerichtet und das ist - wir müssen uns das immer wieder sagen - für uns eine große Ehre! Ja, es gibt keine größere Ehre mehr für uns! Wenn früher unser Großherzog oder Kaiser, wenn heute der Führer und Reichskanzler einen von uns zu sich rufen würde: Du sollst immer bei mir sein und mit mir alles teilen! Liebe Freunde, was würde dieser eilen und sich dieser Ehre freuen! Nun ist es leider aber nicht auch so, wenn Jesus uns in seine Lebensgemeinschaft beruft. Aus dieser machen sich viele nichts, gar nichts. Diese Gemeinschaft, die der Herr von sich aus mit uns aufgerichtet hat, wird von Ungezählten auf die Seite geschoben. Ist es bei den einen klare und böse Absicht, den andern erscheint Jesus zu gering. Da paßt das Bild vom Weinstock auch hier schon auf den Herrn! Klein und unansehnlich erscheint uns der Weinstock im Vergleich zu einem Apfelbaum, und doch bringt er die süße, herrliche Frucht. Und so erkennen viele die Herrlichkeit des Heilandes nicht, weil er ihnen zu einfach und schlicht erscheint. Aber wie man die Trauben essen muß, um ihre Süßigkeit zu schmecken, so müssen wir im Gehorsam und Vertrauen den Ruf des Herrn zum Kommen und Bleiben, zu seiner Lebensgemeinschaft aufnehmen und befolgen; dann schlägt auch uns die Stunde, wo wir, wie Petrus, staunend rufen: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! Und dann wird uns auch die Ehre, die in der Einladung an uns zur Lebensgemeinschaft mit Jesus liegt, klar und gewiß, so deutlich, daß uns niemand mehr irgendein Wort darüber zu sagen braucht. Wir erkennen diese Ehre als freundliches Entgegenkommen Gottes, als seine Gabe, nicht unser Recht und Verdienst. Wir bekennen, daß wenn der Herr uns nicht ruft, wir nicht zu ihm kommen können. Liebe Freunde! Zu Nathanael hat Jesus das Wort gesagt: Du wirst noch Größeres denn das sehen! Diese Verheißung darf ich auch euch zurufen. Die Lebensgemeinschaft mit Jesus ist nicht nur unsere Ehre, noch viel mehr: unsere Erlösung und Rettung. Daß wir die Erlösung aus Sünde und Tod nötig haben, diesen inneren Ketten und Banden, ist nicht zu beweisen. Tatsachen müssen nicht erst bewiesen werden. Wir haben immer nur allen Grund, Gott zu danken für den Retter und Heiland, den er der Menschheit gesendet hat, zu danken für die Lebensgemeinschaft mit Jesus, die unsere Rettung ist. Über dies Rettungswerk hat der Herr manches Wort gesagt, besonders klar hat er sich hier darüber geäußert. Wie der Weinstock seinen Reben zuströmt Kraft und Lebenssaft, will Jesus sein Leben in uns hineinsenken; und wie der Weinstock die süße Traube bildet und das Wasser des Erdreichs in Wein verwandelt, so heiligt Jesu Lebenskraft unser Leben, zerstört der Herr das Böse in uns und baut das Gute in uns hinein, daß eine neue Kreatur, eine göttliche Neuschöpfung aus uns wird. Und dies neue Leben in dir ist ihm so wichtig, daß er es immer im Auge behält wie der Winzer seinen Weinstock. Ihr wißt, daß der Weingärtner zur Pflege seines Weinstocks auch das Winzermesser braucht. Ihr braucht es selbst in euren Weinbergen. So braucht der Herr auch das Winzermesser der Leiden, um dein Leben zu reinigen. Deshalb sollten wir auch nicht gleich ungeduldig werden, wenn der Herr dies Messer ansetzt, die verkehrten Triebe deines Lebens abzuschneiden. Ein junger Geistlicher, der vor seinem Ende schwer leiden mußte, lehrt uns mit seinem Gebet den rechten Weg:

Heiliges Winzermesser, sieh, ich küsse dich;
denn ich weiß, du rettest von dem Tode mich.
Heiliges Winzermesser, lass mir keine Ruh;
ist es not, so fahre nochmals kräftig zu.

Ja, mit allem, was Jesus an uns tut, will er uns dienen, helfen, veredeln, unsrer seligen Bestimmung uns näher bringen; er will unser Leben so beherrschen, daß er in uns lebt und wir aus ihm leben, reden und handeln. Jesus will der Christus in uns sein, uns zum Heil! Dieser Zustand unsrer höchsten Glückseligkeit ist von Jesus her tatsächlich und wirklich, weil es auch einen Christus für uns gibt, weil Christus sich am Kreuz für uns geopfert hat, für uns, daß wir heil würden. An mir liegt es nun, diesen Heilszustand - nein! nicht zu erwerben - so kann ich nicht sagen, sondern - im gläubigen Vertrauen mir schenken zu lassen und ihn auch meinerseits zu hüten und zu pflegen. Liebe Freunde! Ein kleiner Schnitt in die fruchttragende Rebe schadet ihr. So müssen wir unsererseits fest an der Lebensgemeinschaft mit Jesus festhalten, wenn wir nicht von neuem Schaden nehmen wollen. Diese Lebensgemeinschaft mit Christus muß aber schließlich die Kraft unsrer Tätigkeit im Dienste Jesu sein. Ja, dies ist die einzige gewisse Probe dafür, ob wir Christo angehören. Der Christ hat im Reiche Gottes die doppelte Stellung: Er ist Rebe am Weinstock; er ist auch Arbeiter im Weinberg. Eben war Petrus vom Herrn nach dem wunderbaren Fischzug gewonnen worden, jetzt soll er Menschenfischer werden. Wir sollen nicht nur unser Heil genießen, wir müssen auch unser Licht leuchten lassen vor den Leuten! Oder wir müssen Frucht bringen. Gar ernst ist vom Fruchtbringen hier die Rede. Immer wieder kommt der Herr auf dies Fruchtbringen zurück. Was aber ist die Frucht? Ein Leben, ein Werk, das zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen geschieht. So hat Theodor Fliedner die weibliche Diakonie ins Leben gerufen zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen. Solche Frucht entscheidet über dein Schicksal; Wert und Schicksal der Rebe hängt von ihrer Frucht ab. Dies Gesetz waltet in der Natur. Die unfruchtbare Rebe wird herausgehauen. Dies Gesetz waltet in der Geisteswelt. Wer im Dienste des Herrn keine Frucht gebracht hat, vergeht in der Stunde der Rechenschaft. Aber du sagst: Wie vermag ich solche Frucht zu bringen wie ein Fliedner und die andern? Nun sieh, kannst du das Wort deines Gottes hören und bewahren, kannst du den Tag deines Gottes heiligen, kannst du Gottes Haus lieb haben, kannst du beten, treu sein, aufrichtig sein, lieben, kannst du das alles oder ist das zu schwer? Sieh, das sind auch Früchte, die der Herr gelten läßt. Die kannst du auch bringen; aber wenn du sie bringst, nur Kraft deiner Lebensgemeinschaft mit Christus. Ohne mich könnt ihr nichts tun! heißt die bleibende Wahrheit des Herrn für seine Jünger! Unzertrennliche Lebensgemeinschaft mit dem Herrn ist unser Ziel! Von ihm aus ist alles geschehen: komm und bleibe! Sei kein Abtrünniger! Nicht zum ersten Male sage ich solches alles. Aber heute bekommen diese Gedanken besonderes Gewicht. Vor 200 Jahren war in unserer Gemeinde auch Kirchenvisitation. Möge der Bescheid darauf wieder Wahrheit werden.