21. Mai 1911 / Einführungsgottesdienst
Kirchenrat Friedrich Horr

  

Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen.
Lukas 5, Vers 5

 

Liebe Gemeinde!

Auf dein Wort will ich das Netz auswerfen! Mit diesem Wort des Apostels, welches den Anfang einer neuen gesegneten Arbeit bezeichnet, will ich dich grüßen zum heutigen Tag, der für mich ein Tag der Freude und des Dankens ist und für uns alle mit Gottes Hilfe eine Förderung im christlichen Glauben und Lieben einleiten soll. Zwar sind wir einander nicht mehr fremd; Bande der Liebe und Anhänglichkeit haben sich in dem halben Jahr unseres Zusammenseins schon um unsere Herzen geschlungen. Und doch beginnt nun ein Neues zwischen uns. Eure kirchliche Gemeindevertretung hat mich zum Pfarrer gewählt. Du christliche Gemeinde in Dietlingen bist nun meine liebe Gemeinde geworden.

Ich darf und will nun bei euch bleiben, solange der Herr Gnade dazu gibt. Und wenn ich nun heute nächst Gott euch herzlich danke für die Beweise treuer Liebe, die ich bei euch schon erfahren habe, so sollt ihr heute auch die Versicherung erhalten, daß für mein Wirken unter euch das Wort des Petrus meine Losung sein soll, wie ich euch bitte, auch ihr wollet das Apostelwort zur Richtschnur nehmen. Dann wird der Segen des Herrn bei uns nicht fehlen.

Auf dein Wort will ich das Netz auswerfen - meine Losung. Doch was heißt das? Ich will euch das hohe heilige Himmelsevangelium predigen, unverkürzt und unverfälscht, so wie es leuchtet in den Worten: "Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." Oder wie Paulus sagt: "Er ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt." Ich will euch nicht predigen, was wohl und angenehm klingt in den Ohren, nicht menschliche Weisheit. Nicht, als ob ich an dem Guten, Schönen und Edlen dieser Welt, an dem, was große Männer hier Großes geschaffen haben, blind vorübergehen wollte. Wir wollen das alles auch in den Kreis unserer Betrachtung ziehen, aber das Licht der Ewigkeit darauf fallen lassen; es werten an dem Maßstab des Evangeliums. Denn wenn irgendwo, so gilt für die Kanzel das Wort: Alles Fleisch ist wie Heu und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume ... Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.

Oder ich könnte das alles auch so ausdrücken, daß ich sage: ich will euch den Christus der Bibel vor die Seele stellen, den Gottes- und Menschensohn, den Heiland und Erlöser, der für uns starb und auferstanden ist und über uns erhöht als Herr und König im Heiligtum des Himmels über uns waltet; den Christus des Petrus, der bekannte: "Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Leben und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes", den Christus des Evangelisten Johannes, der schrieb: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." Nicht den Christus vieler moderner Forscher, die Jesus das göttliche Gewand ausziehen, ihn zeichnen als den Besten unter den Guten, den Herrlichsten unter den Menschenkindern, den Erfolgreichsten unter den Pfadfindern der Religion, den weisen Rabbi aus Nazareth, der für seine Lehre starb, den Meister, der viel Liebe geübt hat, unser sittliches Vorbild.

Und wenn ich uns so Leben und Erlösung verkündige, so muß ich euch andererseits auch ein Bote des Todes sein und euch zurufen: Tut Buße, laßt ab von der Sünde, sterbet der Welt und ihrer Lust, um in Christus nur zu leben. Sonst habt ihr keinen Teil an den reichen Gütern, die er gebracht hat.

Mit solcher Botschaft will ich allezeit vor euch treten; denn das ist das Wort, welches der Herr seinen Dienern aufgetragen hat, worüber er sie einst zur Rechenschaft zieht. Doch noch eine andere Erwägung zwingt uns Prediger des Evangeliums, den Christus der Bibel der Gemeinde zu bringen. Dieser Christus ist der Grund- und Eckstein der Kirche, der Mittler des Heils, der Weg zum Vater. Verläßt ihn seine Gemeinde, so geht sie Irrtum und Nacht entgegen, dem Verderben; so geht es ihr wie dem Wanderer, der im Hochgebirge den erprobten Weg verläßt. Bald kommt er nicht mehr vorwärts, er strauchelt, er fällt, er kommt zerschmettert in der Tiefe an. Wir haben ja genug Beweise dafür! Denkt einmal an die Zeit, da Luther auftrat und das Evangelium wieder auf den Sockel stellte. Wodurch war denn die Reformation nötig geworden, woher waren denn die falschen Lehren und Mißbräuche in der Kirche gekommen? Wie konnte man denn lehren, der Mensch müsse sich durch gute Werke den Himmel verdienen und in Glaubenssachen ganz dem Priester folgen? Wie konnte man die Feier des Heiligen Abendmahls so wider die Einsetzung Jesu verändern? Gottes Wort war ein Buch mit 7 Siegeln geworden, der Herr Jesus war verschwunden in der Schar der Heiligen.

Andererseits hat man noch immer die Erfahrung gemacht, daß mit dem Jesus der Bibel ein neuer Anfang, ein Vorwärts, verbunden war. So war es schon in der ersten Zeit. So hat Johannes unter dem Eindruck dieser Erscheinung einst geschrieben: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat". Und in der Tat! Das ist und bleibt das wunderbarste Ereignis in der Weltgeschichte, daß eine kleine Schar überzeugter Jünger Jesu ohne Waffen mit dem Evangelium in kurzer Zeit die damals bekannte Welt für den Herrn eroberte, die heidnischen Laster überwand, den Sklaven die Freiheit brachte, die Frauen aus der Niedrigkeit erhob, einer sterbenden Welt neue Lebenskräfte einhauchte, einen Glaubensmut brachte, der auch angesichts des Todes ruft: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?!

So hat Luther mit dem Evangelium die Kirche reformiert und dem Herrn eine Gemeinde zugeführt, die sich der Wahrheit und Freiheit Jesu erfreut. So hat Calvin, mit dem Christus der Bibel im Bunde, eine gottlose Stadt aus dem Verderben errettet und damit in ihr den Grund gelegt zu blühendem Wohlstand und fröhlicher Entwicklung. Und deshalb, Freunde, nicht minder auch mit Rücksicht darauf, will ich euch den Christus der Bibel bringen, in seinem Namen eure Kinder taufen, eure Mädchen und Knaben konfirmieren, eure Brautpaare einsegnen, eure Kranken trösten, eure Sterbenden erquicken, eure Toten dem Schoß der Erde zur Auferstehung übergeben. Ich will von ihm nimmer schweigen, denn er ist auch für euch Freiheit und Sieg. Er gibt auch euch Kraft zur Überwindung der Welt in euch, zum Sieg über die Sünde, die Trägheit und Kälte des Herzens und die Unbeständigkeit im Glauben. Er gibt Kraft zu eurem Leben, Frieden ins Herz, Trost im Leid, Licht in Nacht, Hoffnung im Tode und Leben nach dem Sterben. Woher sonst kann solche Kraft uns noch werden? Nicht die Arbeit, nicht die Natur, nicht Kunst und Wissenschaft, keine Arznei hat solche Wirkung, Christus allein. Darum ist meine Losung: Herr, auf dein Wort will ich das Netz auswerfen!

Doch auch euch bitte ich, laßt dies Wort eure Richtschnur nicht minder sein. Und was heißt das für euch? Ergreifet den Herrn, der euch angeboten wird, im Glauben. Was hilft es denn, von Jesus wissen, ihn kennen nach seinem äußeren Leben, wenn man sich nicht vertrauend in seine Arme wirft! Nicht das Ergreifenwollen ist Seligkeit, sondern das Ergriffenhaben. Und deshalb ruft er ja auch so freundlich: Kommet her zu mir alle, ich will euch erquicken. Ja, ergreifet den Herrn im Glauben und kommet aber auch hier her, wo sein Wort erschallet und sein Name gelobt wird. Es gibt am Sonntag nichts Schöneres, als eine anbetend feiernde Gemeinde. Kommet, ihr Jungen, kommet, ihr Alten, kommet allzumal! Mögen manche spotten, laßt sie spotten, für euch ist der Gottesdienst Gewinn!

Dann aber bewahret auch, was ihr gehört habt. In der Woche setzt in der Stille den Gottesdienst fort. Auf das Wort des Herrn wandelt in der Wahrheit und in brüderlicher Liebe. Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein. Doch dazu suchet und forschet selbst auch im Buche des Lebens, so wie es von den Christen heißt, daß sie forschten in der Schrift, ob es sich auch also verhielte, wie Paulus ihnen sagte. So sei auch eure Losung und Richtschnur: Herr, auf dein Wort will ich das Netz auswerfen.

Und noch eins: Wenn euch irgendetwas schmerzt oder drückt, wenn ihr Trost braucht und ich kann euch helfen oder zum Trost hinleiten, kommet zu mir ins Pfarrhaus. Es steht euch immer offen. Wenn so allezeit zwischen uns ein herzliches und offenes Verhältnis besteht, wenn wir an unserm Platz unsere Pflicht gewissenhaft erfüllen, dann wird sich der Herr in Gnade zu uns bekennen, dann wird er uns wie dem Petrus einen reichen Zug geben und wir werden einst bestehen vor seinem Angesicht!

Darum noch einmal: Herr, auf dein Wort! Wohl dem, der treu erfunden wird!